Joshua Cohen | WITZ

USA 2010 | 912 Seiten
OT: »Witz«
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach
Schöffling & Co.
ISBN: 978-3-89561-629-7

Am Anfang kommen sie zu spät.

(Seite 13)

Liebe Gemeinde, Ihr Brüder und Schwestern der ›Kirche von Joshua Dem Gnädigen Erlöser‹ – Wir beten Dich an, gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit! –, Ihr lasset seit vielen Monden den Kopf hängen ob der langen Zeit, die seit der letzten Kunde unseres Propheten verstrichen ist, und es schmerzt mich wahrhaft, Euch so zu sehen. Doch Halleluja! und Hosianna! meine Freunde, ich habe frohe Botschaft zu verkünden, denn unsere Gebete wurden erhört – WITZ steht seit heute in den Buchläden des Landes, um Euch treue Seelen wieder glücklich zu machen! Endlich ist die Übersetzung beendet, die Translation vollbracht, der Text auf Papier gebannt und zwischen farbenfrohe Buchdeckel gebunden worden, großformatig und edel in der Qualität. Endlich könnt Ihr Sein Wort empfangen, vorbei die Zeit von lahmem Kram und öder Schnödnis, denn unser Prophet höchstselbst – Wir beten Dich an, oh Joshua, gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit! – reicht uns Seine Hand, um uns zu führen in eine Welt, wie wir sie seit Dekaden nicht mehr betreten haben. Mir wurde die große Ehre zuteil, Sein Wort vorab schon studieren zu dürfen, um es heute für Euch ausgehungerten Empfänger Seiner Weisheiten in ein paar Sätzen vorstellen zu können, eine Aufgabe, die mich in den vergangenen Wochen allzeit in Ehrfurcht erstarren ließ. Doch bevor ich die Kunde unseres Messias – Wir beten Dich an, oh Joshua, gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit! – für Euch zusammenfasse, möchte ich eine kleine Geschichte erzählen, die mir während der Lektüre eines Abends wieder einfiel…

So höret denn nun, was ich Euch zu berichten habe. Vor vielen, vielen Jahren, als die Welt noch eine andere gewesen war – unkomplizierter, freundlicher, verständnisvoller –, trug es sich zu, dass ich von einem guten Freund – dem besten und treuesten jener, die ich in all den Jahren je Freund nennen durfte; einem, von dem man zweifelsohne sagen könnte, er wäre für mich derjenige, dem ich alles anvertrauen, dem ich ohne auch nur mit der kleinsten meiner vielen Wimpern zu zucken das Leben meiner Kinder in die Hände legen würde – ein Geschenk bekam. Es war nicht irgendeine kleine Aufmerksamkeit, nicht irgendein Tinnef, den man ein paar Tage bewundert, dann in den Schrank stellt und sich beim nächsten Umzug von ihm trennt, sei es aus Versehen oder »aus Versehen«. Nein, das Geschenk war von großer Pracht, würfelförmig mit je zwei Ellen Kantenlänge, verpackt in edelstem Samte von so dunklem Violett, dass es fast schwarz erschien, in der Sonne jedoch die Farbe purer, den Tiefen der Lenden entsprungener Sünde annahm. Doch nirgends fand ich eine Naht, die sich zum Öffnen des feinen Stoffes eignete. So nahm ich denn meinen schärfsten Dolch und schnitt das kostbare Tuch entzwei, auf dass es auseinanderfloss wie die sanften Wellen der Baltischen See und eine zweite Schicht freigab, taubenblaue Seide von so fragiler Zartheit, wie ich es noch nie gesehen hatte, die ich aber in meinem Eifer ebenfalls zerdolchte, obgleich sich meine Hände wahrlich sträubten, einen solch schönen Stoff zerstören zu müssen. Und auch die dritte Schicht aus waldgrünem Brokat, verwoben mit schillernd güldenen Fäden, entkam dem Furor meines Dolches nicht. Danach stieß ich auf Granit und kam mit der Klinge naturgemäß nicht weiter. Ich griff zu Hammer und Meißel und drosch auf den Kubus ein, stundenlang und unter Aufbietung all meiner Kräfte. Splitter trafen schmerzhaft meine Haut, Steinstaub legte sich auf meine heraushängende Zunge, links und rechts flogen Edelsteine an mir vorbei, Rubine, Opale, Saphire und Topase sammelten sich zu meinen Füßen, doch stieß ich sie in meiner Gier einfach weg bis ich das Geschenk um die harte Steinschicht erleichtert hatte. Der Würfel war nun viel kleiner als zuvor, glänzte fettig, rosa speckig, und als ich mit meinen geschundenen, aus hundert kleinen Wunden blutenden Fingern seine Oberfläche entlangfuhr, spürte ich biegsame Borsten auf kalter, feuchter Haut. Ich sinnierte lang, verstand schließlich und schlug meine Zähne in die zähe Schwarte, kaute und biss und zerrte und riss und würgte und schiss Stunde um Stunde, verausgabte mich an der ledrigen Haut, durch das tranige Fett, hinein in die faserige Fleischeswelt, bis ich mit keuchendem Atem und blähendem Bauche alle Seiten des Kubus verspeist hatte. Übrig blieb ein kleines Kästchen, nicht viel größer als ein Kätzchen, aus Ebenholz ward es gemacht und mit ehernen Schellen beschlagen. Das Schloss zum Öffnen war mit einem Zauberbann belegt, der nur durch ein magisches Wort gebrochen werden konnte, das die Weisheit der Welt in sich trug und nur durch eine lange Suche durch Zeit und Raum gefunden werden konnte. Also zog ich denn hinaus in die entlegensten Ecken der Erde, um zu Erringen jene Weisheit, jenes sechsbuchstabige Lösungswort, das mich allein von meinem Geschenk noch trennte. Ich kletterte hinab die zerklüfteten Küsten Kamtschatkas, tanzte mit den tobenden Teufeln Tasmaniens, rangelte mit langen Schlangen auf Atacamas sandigen Wangen, zog an zittrigen Zweigen zyprischer Zwetschgen, grub große Gräben in die grauen Gründe Grönlands und schwamm lang durch den schlickigen Schlamm des Jangtsekiang… Als ich nach Monaten kräftezehrender Abenteuer das Wort endlich empfing, kehrte ich abgemagert, langbärtig und hohläugig zurück in mein schlichtes Heim, wo das Kästchen aus dem Fleisch, dem Stein und dem Stoff noch immer auf mich wartete. Ich sprach das verbum magicae so laut und deutlich ich es mit meiner brüchigen Stimme noch vermochte und siehe da, das kätzchengroße Kästchen sprang auf und offenbarte mir das eigentliche Geschenk meines wackeren Gefährten, der in all der Zeit ebenfalls erheblich gealtert, nie jedoch vom Tische gewichen war und das Präsent mit seinem Leben beschützt hatte. Ich griff mit meinen mageren, bleichen Fingern in das Kästchen und holte ein kleines, in Tuch gewickeltes Etwas hervor, das so winzig war, dass jeder Jüngling es bequem in seiner Faust hätte verstecken können, doch war es für seine geringe Größe erstaunlich schwer. Ich wickelte vorsichtig das Tuch beiseite und schaute das Geschenk lange an, ich kann nicht sagen, wie lang genau, es könnten Minuten gewesen sein oder auch Jahre, bis mir schließlich ein Tränenschleier die Sicht versperrte. Das schmale Rinnsal, das mir zunächst nur die dreckverkrusteten Wangen benetzte, wurde schnell zu einem majestätischen Wasserfall, der mir in Zillionen Gallonen aus den Augen schoss. Die flutenden Massen sammelten sich in Windeseile zu einem reißendem Strom, der das Kästchen fortspülte, die Reste des fettigen Fleisches, all die Splitter und Brocken, den Staub und die edlen bunten Steine, die kostbaren Stoffe in all ihrer Pracht und schließlich auch, Wie bitter, ach! meinen treuen Freund, Leb wohl und gute Reise! bis alles aus meiner Wohnstatt geschwemmt war und ich gurgelnd und prustend und gänzlich allein auf dem Grund meines Zimmers lag. Das Geschenk jedoch hatte ich die ganze Zeit festgehalten, mit all der Kraft, die mir noch geblieben war, denn etwas so Schönes hatte ich mein Lebtag noch nicht gesehen.


Ihr fragt Euch vielleicht, warum ich Eure Geduld mit dieser kleinen Geschichte so sehr auf die Probe stelle, seid Ihr doch nur hier, um zu erfahren, worum es im Buch unseres Propheten – Wir beten Dich an, oh Joshua, gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit! – geht, und ich will Euch auch nicht länger auf die Folter spannen. Erlaubt mir nur zu sagen, dass diese Geschichte als Gleichnis für das Geschenk dienen soll, das Er uns und den uns nachkommenden Generationen mit Seinem Wort gemacht hat. Nun denn, lasset mich Seine Botschaft für Euch zusammenfassen…

Als Ben Israelien im amerikanischen Bundesstaate Joysey seinen Eltern als erster Sohn nach zwölf Töchtern geboren wurde – zum letzten Weihnachtsfest des letzten Jahrhunderts –, war er nur einer von Millionen amerikanischer Juden. Doch nicht lange nach seiner Niederkunft war er plötzlich der Einzige, denn eine totbringende Seuche hatte das Land befallen, der alle Juden von jetzt auf gleich zum Opfer fielen. Zunächst verschonte die Plage alle erstgeborenen Söhne, die daraufhin auf eine Insel im Hudson River gebracht wurden, auf dass sie von der Außenwelt abgeschnitten seien und überleben konnten. Doch nach und nach starben auch jene Familienthronfolger und Ben wurde zum Erben einer ganzen Religion. Das Kind wuchs erstaunlich schnell heran, war zur Geburt eigentlich schon fertig gereift, und wurde landesweit als Superstar gefeiert. Ihm wurden all seine Wünsche erfüllt und ein Leben in aller Pracht ermöglicht. Schauspielerinnen wurden gecastet, die fortan die Rollen seiner verblichenen Familie übernahmen und es mangelte ihm weder an Luxus noch an Lebensfreude. Doch als er sich in einem schwachen Moment mit der Darstellerin, die seine Mutter spielte, auf eine amouröse Liaison einließ, fiel er bei seinen Anhängern in Ungnade und wurde aus dem Land gejagt. Von da an fristete er ein Leben im Exil, bereiste die Länder seiner Ahnen, um zu erkennen des Daseins wahren Sinn. Doch welcher das ist, sei hier nicht verraten…


Liebe Brüder und Schwestern, wochenlang habe ich mich in den Seiten der Kunde unseres Messias – Wir beten Dich an, oh Joshua, gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit! – vergraben, bin Tag für Tag Seinen Sätzen gefolgt und habe so manches Abendmahl verpasst, um noch ein paar Worte mehr zu empfangen, bevor sich meine erschöpften Augen schlossen. Ich kann Euch sagen: Leicht war es nicht immer, denn noch nie hatte ich einen solch wortgewaltigen, anstrengenden und überladenden Text unter der Lesebrille. Zunächst versuchte ich noch mitzuschreiben, mir kleine Notizen zum Geschehen zu machen, in ein Heft, das ich extra zu diesem Zwecke gekauft hatte. Dieses Vorhaben gab ich jedoch schon nach wenigen Kapiteln auf. Ich ließ mich alsdann nur noch treiben, versuchte, nicht gänzlich den Faden zu verlieren und in diesem Sturm aus Prosa unterzugehen … Freunde, ich sehe verängstigte Gesichter in Euren Reihen. Doch habt keine Furcht und seid tapfer! Lest und haltet durch, auch wenn sich die Zeilen zu Flutwellen türmen, die über Euch zusammenzubrechen drohen. Dieser Roman ist für die Ewigkeit gemacht, eine Geschichte, die wieder und wieder gelesen werden muss, um sie vollends zu durchdringen. Und ja, ich werde es tun! Ich werde mich erneut in den Sturm begeben und Sein Wort empfangen, denn ich bin Ihm verfallen, von Ihm besessen, Ihm verpflichtet – so wie wir alle, die wir hier versammelt sind –, allerdings erst, wenn meine Wunden verheilt sind und ich wieder zu Kräften gekommen bin.

Und wir wollen auch nicht vergessen, einem unserer emsigsten Freunde zu danken. Viele Jahre lang hat sich unser lieber Bruder Ulrich an der Übersetzung des Textes des Propheten – Wir beten Dich an, oh Joshua, gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit! – abgearbeitet, hat in seinem stillen Kämmerlein Wort für Wort und Satz für Satz in unsere Sprache übertragen und sich durch einen endlos scheinenden Dschungel aus Buchstaben, Zahlen und Satzzeichen gewühlt, umstellt von Türmen aus Wörterbüchern und Enzyklopädien, wie einst schon bei seiner preisgekrönten Arbeit am Evangelium des Heiligen David. Gebt Euch bitte die Hände zum gemeinsamen Dankesgruß: »Wir danken Dir, Bruder Ulrich, für Deinen aufopfernden Beitrag und schließen Dich in unsere Gebete ein, auf dass Du im Frühling in Leipzig für Deine Arbeit geehrt wirst!« Und nun, meine Lieben, eilet schnellen Schrittes in die Buchhandlung Eures Vertrauens, empfanget das Wort, laufet rasch zurück in Eure Hütte und leset, staunet und genießet.

UND JETZT ALLE:
»Oh Joshua, wir beten Dich an,
Gepriesen sei Dein Name bis in alle Ewigkeit,
Du Bewahrer der Postpostmoderne,
Du Hüter anspruchsvoller Literatur.
In die unergründlichen Weiten Deines Geistes
Befehlen wir den schwächlichen Fokus
Unserer unwürdigen Glotzkorken,
Auf dass Du uns Frieden und Erlösung gebest
Und wir ein Leben ohne Kitsch und Schund
In Deinem schützenden Schatten führen dürfen.
Bis zur allerletzten Stunde der Menschheit
Werden wir Dein Wort studieren,

Verkünden und verteidigen,
Denn Du bist es, der uns alle rettet,
Uns vergibt und ins Himmelreich führt –
’n Abend!«


WITZ erschien in der Übersetzung von Ulrich Blumenbach im Schöffling Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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