Jesmyn Ward | SINGT, IHR LEBENDEN UND TOTEN, SINGT

USA 2017 | 304 Seiten
OT: »Sing, Unburied, Sing«
Aus dem Englischen von Ulrike Becker
Antje Kunstmann Verlag
ISBN: 978-3-95614-224-6

Ich stell mir gerne vor, dass ich weiß, was der Tod ist. Ich stell mir gerne vor, dass er etwas ist, dem ich ins Auge sehen kann. (Seite 9)

Jojo und seine kleine Schwester Kayla wachsen in ärmlichen Verhältnissen im Süden Mississippis auf. Ihre Mutter Leonie kann kaum für sie sorgen; zu groß sind die Probleme, die sie mit sich herumträgt. Drogen und ein mieser Job in einer Bar, der tief verwurzelte Alltagsrassismus und falsche Freunde lassen Leonie hart mit dem Leben kämpfen. Auch Michael, der Vater der Kinder – ein Weißer –, ist keine Hilfe, denn der sitzt im weit entfernten Parchman eine dreijährige Haftstrafe ab.

Einziger Anker, besonders für Jojo, ist Pop, Leonies Vater, ein vom Leben gezeichneter, aber aufrechter Schwarzer, der die Familie zusammenhält und Jojo alles beibringt, was dieser fürs Leben brauchen kann. Doch auch er hat schwer zu tragen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihm die Kontrolle über seine Liebsten entgleitet. Seine Frau liegt schwer krank im Bett und sehnt den Tod herbei, er weiß um die Probleme seiner Tochter und die Geister seiner Vergangenheit holen ihn immer öfter ein.

Als Michaels Haftstrafe beendet ist, beschließt Leonie, ihn zusammen mit den Kindern und ihrer Freundin Misty mit dem Auto abzuholen. Viele hundert Meilen durch den hitzeflirrenden Süden – eine enorme Belastungsprobe für die zerbrechliche Familie, die an der Reise endgültig zu zerbrechen droht. Kayla wird wird schwer reisekrank und übergibt sich mehrere Male ins Auto, Misty reagiert darauf mit Unverständnis und hysterischem Abscheu, und Leonie denkt nur an Michael und ihren nächsten gemeinsamen Trip ins Land der Träume. Es ist jetzt an Jojo, die Zügel zu halten, seine Schwester zu trösten und sie gleichzeitig vor der völlig überforderten Mutter zu schützen. Doch da ist noch jemand im Auto, jemand, den nur Jojo sehen kann, ein Geist aus der Vergangenheit, der Jojos Aufmerksamkeit verlangt. Was er will ist nicht klar, doch die Reise hat ein Ziel, und dort liegt die Lösung und auch Hoffnung.


Jesmyn Ward (*1977) ist mit ihrem dritten Roman SINGT, IHR LEBENDEN UND TOTEN, SINGT ein wahres Meisterstück im klassischen Southern Gothic-Stil gelungen, das die ganze Härte des Lebens der Schwarzen in den Südstaaten schildert und gleichzeitig von der unsterblichen Hoffnung erzählt, dass alles irgendwann aufhört und besser wird, auch wenn das den Tod bedeutet.

Ward wählt hierfür wechselnde Perspektiven, die je Kapitel zwischen Jojo und seiner Mutter hin und her springen. Durchbrochen wird dieser Wechsel durch den geisterhaften Fahrgast, der ebenfalls für paar Kapitel zu Wort kommt. Dass Leonie eine eigene Stimme bekommt, hilft uns Lesern dabei, sie besser zu verstehen. Sie ist keine schlechte Person, sie ist nur schwach, sieht schnell rot und ist selten klar bei der Sache. Dass sie nicht für ihre Kinder sorgt, ist kein böser Wille – ihr fehlt die Gabe, wie es ihrer Mutter schon früh aufgefallen ist. Sie ist nicht dafür gemacht, Kinder großzuziehen. Eine Gabe ganz anderer Art besitzt Leonie aber: Sie kann die Toten singen hören. In ihrem Fall ist es Given, ihr Bruder, der ihr immer wieder erscheint, sie leitet und mahnt. Er wurde vor fünfzehn Jahren von einem Weißen erschossen, einem Upper-Class-Student und Cousin des Mannes, den Leonie später heiraten sollte: Michael – auch ein Umstand, ein Verrat, den sie mit sich herumschleppt.

Besondere Kraft legt Ward in die Beziehung der beiden Geschwister. Sowohl aus Jojos als auch aus Leonies Sicht sind die beiden unzertrennlich miteinander verbunden (was Leonie zusätzlich mit Eifersucht erfüllt). Die instinktive Liebe, die die beiden Kinder verbindet, ist unerschütterlich, tief und wunderschön. Wie sich Jojo mit seinem völlig unkindlichen Ernst um Kayla sorgt; wie sich die Dreijährige – erschöpft und immer wieder aufs Neue verängstigt – an Jojo klammert und Schutz sucht; das sind Szenen, die beim Lesen direkt ins Herz treffen. Diese Verbindung steht im krassen Gegensatz zu den Gefühlen gegenüber der Mutter. Wo eigentlich Liebe und Vertrauen gedeihen sollte, wächst nur Hass und Unverständnis, ein schwarzes Loch, ein unerträgliches Nichts.

Der Roman liegt nach der letzten Seite wie ein Stein auf dem Gemüt. Von Anfang bis Ende wird gelitten, geprügelt, gehasst und  verflucht. Dennoch schafft es Jesmyn Ward mit irgendeinem ihrem Text innewohnenden Zauber, dass wir das Buch mit einem guten Gefühl schließen. Wir wissen: Jojo ist ein starker Junge, er wird es schaffen; Kayla wird beschützt und auch Leonie kann ihren Weg finden. Es ist die alles rettende Hoffnung, die Ward zwischen jede Zeile schreibt und dieses Buch zu einem wahrhaft intensiven Leseerlebnis macht – hart und wunderschön zugleich.


JW-SILUTS

SINGT, IHR LEBENDEN UND TOTEN, SINGT ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Die Übersetzung besorgte Ulrike Becker. Alle weiteren Informationen über den Roman und die Autorin findet ihr hier. Weitere sehr positive Rezensionen könnt Ihr im LiteraturReich, bei Zeichen & Zeiten und bei mscaulfield nachlesen. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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