Helena Adler | DIE INFANTIN TRÄGT DEN SCHEITEL LINKS

A 2020 | 188 Seiten
Jung und Jung
ISBN: 978-3-99027-242-8

Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.

(Seite 7)

Zack! und gleich das nächste Familiendrama aus den österreichischen Bergen. Aber nicht in so düsteren Farben wie in Stephan Roiss‘ soeben ausgelesenen und für gut befundenen Roman TRICERATOPS, sondern grellbunt und laut und schrill. Das fängt schon beim Coverbild an (siehe unten): Ein niedliches Mädchen mit Zöpfchen, Kleidchen, Hündchen – vermutlich die Autorin herself – sitzt eingeschüchtert bei einem jener verhassten Kindergarten-Fotoshootings – man kennt das: »Nun lächel doch mal! Du sollst lächeln, Herrschaftszeiten!« Und diesem gezwungen putzigen Kinderporträt hat jemand – vermutlich ebenfalls die Autorin herself – mit fettem Filzstift Hörner angemalt und eine Augenklappe aufgesetzt; es fehlt nur noch das obligatorische Quadratbärtchen. Nicht einmal das Plüschtier ist verschont geblieben. In leuchtendem Pink prangt der Titel quer über das Bild: DIE INFANTIN.

Jenes Mädchen also wächst auf einem schön gelegenen Bauernhof in den Alpen heran. Doch der Schein trügt und das, was die Natur an Idylle schenkt, kehrt die völlig kaputte Familie ins Gegenteil. Die Mutter ist eiskalt und herzlos, der Vater ein hoffnungsloser Säufer, die Schwestern dämonische Furien. Die Infantin hat es nicht leicht mit ihrer Sippe, lässt sich aber nicht unterkriegen und wehrt sich von Kindesbeinen an. Das beginnt mit dem Abfackeln des Bauernhofes, führt zur Flucht in die Fernsehserien-Welt der 80er und 90er – Beverly Hills 90210, Knight Rider, undsoweider – und endet mit der familiären Abnabelung in einen Kreis aus falschen Freunden, nur um später über Umwege wieder in den »genetischen Rattenschwanz« eingegliedert zu werden.

(Update: Nach Informationen aus erster Hand – der Autorin herself – handelt es sich bei dem Covergirl um die Mutter von Helena Adler, was sogar noch besser zur familienhassenden Infantin passt.)


Was uns Helena Adler (geboren 1983 in einem Opel Kadett bei Salzburg) in ihrem Debüt um die Ohren feuert, ist prosagewordener Zorn, schreiend komisch und tieftraurig zugleich. Wortgewaltig und mit großer Freude am Sprachspiel führt uns die Autorin durch ihre höllenartige Coming-of-Age-Geschichte und watscht wie im Vorbeigehen gleich noch eine ganze Generation ab, die seit Jahrzehnten gute Miene zum bösen Spiel macht und sich lieber hinter verschlossenen Türen zerfetzt, als öffentlich Probleme einzugestehen. In jedem Satz steckt eine Ohrfeige, eine Metapher, eine Übertreibung; das Buch quillt förmlich über vor Wutgeschnaube und Mordfantasien. Natürlich kann man die Hände überm Kopf zusammenschlagen und sagen: »Oh Himmel, das arme Mädchen!« Man kann aber auch von der ersten bis zur letzten Seite herzhaft lachen – ich habe mich für den zweiten Weg entschieden. Denn trotz aller Seitenhiebe auf die Doppelmoral der konservativen Elterngeneration, trotz der Kunstfertigkeit, die Adler ohne Zweifel und mit Bravour unter Beweis stellt, bleibt DIE INFANTIN ein Unterhaltungsroman – skurril, überdreht und grotesk, für ein ernsthaftes Sittengemälde aber zu sehr auf Effekt geschrieben.

(Apropos Gemälde: Die einundzwanzig Kapitel sind mit den Namen von Werken berühmter Maler betitelt. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, die Bilder während der Lektüre zu googeln und passend zu den Kapiteln zu betrachten – da tut sich ja eine ganz neue Ebene auf! Romanbegleitende Playlists mit Songs, die das Erzählte untermalen, kennt man ja nun schon länger, aber Paintinglists – Kann man das so nennen? – waren mir bislang neu.)

Helena Adlers Debütroman macht Spaß und erinnert hier und da an Petra Piuks großartigen Anti-Heimatroman TONI UND MONI, den ich schon dutzendfach empfohlen, ausgeliehen und verschenkt habe. Auch DIE INFANTIN kann ich wärmstens empfehlen, besonders für Leserinnen und Leser, die sich gerne abseits der ausgetretenen Pfade herumtreiben.


DIE INFANTIN TRÄGT DEN SCHEITEL LINKS erschien beim Salzburger Verlag Jung und Jung. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

Ein Gedanke zu “Helena Adler | DIE INFANTIN TRÄGT DEN SCHEITEL LINKS

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