Ling Ma | NEW YORK GHOST

USA 2018 | 360 Seiten
OT: »Severance«
Aus dem Amerikanischen von Zoë Beck
Culturbooks
ISBN: 978-3-95988-152-4

Nach dem ENDE kam der ANFANG.

(Seite 7)

Stellt Euch folgendes Szenario vor: In China bricht eine Krankheit aus, die zunächst langsam und auf eine einzelne Stadt beschränkt, dann aber immer schneller um sich greift und durch den globalisierten Handel auch internationale Gebiete erreicht. Innerhalb weniger Wochen sind fast alle Teile der Welt von einer handfesten Pandemie betroffen. Die Erkrankung verbreitet sich über die Atemluft. Um die Ansteckungen einzudämmen, müssen die Menschen Masken tragen, Sicherheitsabstände einhalten und soziale Kontakte meiden, am besten, sie bleiben gleich ganz zuhause. Doch die Zahlen steigen immer weiter und in kürzester Zeit ist die medizinische Versorgung komplett überlastet… Kommt Euch das bekannt vor? Ich vermute mal: Ja. Eine solche Geschichte präsentiert Euch die amerikanische Autorin Ling Ma in ihrem Debütroman NEW YORK GHOST. Aber ganz ehrlich, ein Buch über eine Pandemie? Wer braucht denn sowas in den heutigen Tagen? Funfact: Der Roman erschien in den USA bereits im August 2018…

Und alle so: »Waaas? Wie visionär ist das denn bitte?« Interesse geweckt, Ziel erreicht. Gut, ein paar Unterschiede zu Corona gibt es – das im Roman um sich greifende Shen-Fieber wird nicht durch Viren, sondern durch Pilzsporen übertragen und die Infizierten bekommen keine Atemwegserkrankung, sondern werden zu willenlosen Zombies –, aber die grundlegenden Vorgänge bei einer Pandemie sind erschreckend genau beschrieben, was den Roman auch heutzutage äußerst lesenswert macht.


Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Candace Chen, Tochter eines chinesischen Paares, das einst aus der Millionenmetropole Fuzhou in die USA emigrierte. Candace arbeitet in einem Verlag in New York City, wo sie für billig produzierte aber auflagenstarke Designer-Bibeln zuständig ist. Nebenbei macht sie Fotos von touristisch eher unattraktiven Ecken der Stadt für ihren Blog New York Ghost, ist mit dem Ergebnis aber eher unzufrieden. Als das Shen-Fieber auch die amerikanischen Großstädte erreicht und immer mehr Bewohner New York verlassen, entschließt sich Candace als eine der wenigen, dort zu bleiben. Da nach und nach die komplette Infrastruktur zusammenbricht, macht sie ihr Büro am Times Square kurzerhand zu ihrer Wohnstatt, zieht in langen Märschen durch die verwaiste Metropole und lädt Bilder des allgemeinen Zerfalls auf ihren Blog. Auf diese Weise wird New York Ghost zur letzten Verbindung der Stadt zur Außenwelt.

Doch auch Candace kann nicht ewig dort bleiben. Sie schließt sich einer Gruppe junger Leute an, die auf dem Weg in den Mittleren Westen ist. Angeführt wird sie von Bob, der etwas gurumäßig daherkommt und von einer geheimnisvollen Anlage spricht, in der die Erlösung auf die wenigen Nicht-Infizierten wartet. Doch was Candace zunächst nur ahnt, wird nach und nach immer deutlicher: Die Gruppe ist gespalten, Bob ist ein religiöser, machtgeiler Spinner und auf dem langen Weg nach Westen werden unter dem Deckmantel der christlichen Nächstenliebe am laufenden Band Erkrankte erschossen. Aber das sind nicht die einzigen Probleme, mit denen sich Candace herumschlagen muss.


Was für eine Geschichte! Dass Ling Ma mit ihren Beschreibungen einer Pandemie so genau ins Schwarze getroffen hat, konnte bei Erscheinen noch niemand ahnen; 2018 war das fiktive Shen-Fieber nur eines von vielen möglichen Endzeit-Szenarien, von denen hunderte im Jahr erscheinen. Aber die unglaubliche Zielgenauigkeit ist nicht das Einzige, was der Roman zu bieten hat. Das wirklich Besondere an NEW YORK GHOST ist seine hartnäckige Weigerung, sich irgendwo einordnen zu lassen. Es handelt sich weder um einen dystopischen Thriller, noch um einen Zombie-Horror-Roman; es ist auch keine Emigrantengeschichte, genausowenig wie eine satirische Abhandlung auf die globalisierte Welt. Dennoch gibt es von allen genannten Labels etwas zu finden, alles wohl dosiert und in mundgerechten Häppchen über das ganze Buch verstreut.

Ling Ma zeigt ein großes Talent, viele Themen gleichzeitig anzuschneiden, ohne sich an einem bestimmten zu sehr festzubeißen. Dadurch entsteht ein beruhigendes Gleichgewicht in diesem Sturm an Dramatik. Ich war zum Beispiel sehr froh, dass sie sich bei den Zombiekapiteln nicht zu aggressiv ausgelebt hat. Andere Autoren und Autorinnen hätten sicherlich großen Spaß daran gefunden, seitenweise Knochen knacken und Blut spritzen zu lassen … und hätten damit wohl alles versaut. Die Szenen lesen sich enorm spannend und die Körperflüssigkeiten-Voyeure unter uns werden auch auf ihre Kosten kommen, aber Ling Ma konzentriert sich eher auf die Gruppe und deren fragilen Zusammenhalt. Das ist bei guten Horrorfilmen übrigens genauso: Es geht nicht – oder halt nur nebenbei – um die Darstellung von Gewalt, sondern immer um das Gefüge in der Gruppe, die der Gewalt gegenübersteht. (Ich danke dem Zombie-Film-Experten A.E. für die Weitergabe dieser Weisheit!)

Lirum larum: Ich spreche für NEW YORK GHOST eine große Leseempfehlung aus. Die Parallelen zu unserer realen pandemischen Lage ist nur ein kleiner Grund, das Buch zur Hand zu nehmen, aber es wartet noch so unglaublich viel mehr in diesem verblüffenden Roman.


NEW YORK GHOST erschien in der Übersetzung von Zoë Beck herself beim Verlag Culturbooks, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

Ein Gedanke zu “Ling Ma | NEW YORK GHOST

Hinterlasse einen Kommentar