USA 2014 | 672 Seiten
OT: »The Country of Ice Cream Star«
Aus dem Amerikanischen von Milena Adam
Matthes & Seitz Berlin
978-3-95757-766-5
Ich bin Ice Cream Fünfzehn Star. Mein Bruder is Driver Achtzehn Star, und mein Geisterbruder is Mo-Jacques Fünf Star, tot, als ichselber erst sechs war. Immer noch is mein Herz Regen für ihn, mein Bruder, der klein an Posies gestorben is. (Seite 7)
Nanu? Was ist denn das bitte für ein Schreibstil? Das klingt ja, als hätte ein kleines Mädchen mit amtlicher Rechtschreibschwäche zufällig eine Schreibmaschine gefunden und einfach mal drauflos getippt! Dass man mit dieser Vermutung gar nicht so falsch liegt, erschließt sich schon nach wenigen Seiten, denn Ice Cream Star – die ebenso taffe wie großmäulige Titelheldin – ist ein Kind ihrer Zeit. Und es ist eine verdammt bittere Zeit, in der sie lebt.
Auf dem amerikanischen Kontinent brach vor Generationen eine mysteriöse Krankheit aus, die in kürzester Zeit alle Menschen infizierte und die weiße Bevölkerung komplett ausrottete. Die Farbigen erreichen seitdem maximal die Volljährigkeit, bevor sie an der Krankheit – genannt Posies, eine Art Pest – elendig sterben. Es sind also nur noch Kinder und Jugendliche übrig, die die Geschicke des Kontinents leiten müssen. In der Folge zerbricht die Gesellschaft in viele kleine Stämme, die sich permant bekriegen, um zu überleben. Ice Cream Star ist die Anführerin eines solchen Stammes, den Sengles in den Wäldern Massachusetts‘. Bei einem Angriff auf ein verfeindetes Dorf wird ein junger Mann gefangen genommen, der behauptet, bereits das nahezu biblische Alter von dreißig Jahren erreicht zu haben. Pascha – so sein Name – verspricht Ice Cream Star ein Heilmittel und die Rettung ihres Stammes.
Zusammen mit Pascha macht sich Ice Cream auf ins ferne Quantico, dem Ort, der die Überreste Washingtons darstellt. Dort im Hafen liegen angeblich Schiffe aus Europa, die das Heilmittel als Fracht beherbergen. Doch die Reise führt gefährlich nah an Marias vorbei, das alte New York City, nach wie vor Zentrum der amerikanischen Welt und Sitz einer katholisch-extremistischen Sekte, die die beiden gefangen nehmen und mit ihnen das Neue Testament nachstellen, mit Ice Cream als der Jungfrau Maria und Pascha als Jesus, der der Bibel nach ans Kreuz genagelt werden muss.
Es sind viele Fässer, die Sandra Newman (*1965) in ihrem Roman aufmacht. Es geht um Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Religion, Fanatismus und Machtmissbrauch. Alles verpackt in eine brutale Dystopie, die an eine Mischung aus DIE TRIBUTE VON PANEM und HERR DER FLIEGEN erinnert. Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die die verschiedenen Stationen von Ice Creams Reise beschreiben, während der erste und der letzte Teil sehr handlungsorientiert sind, sind die Mittelteile eher dialoglastig; es wird viel diskutiert, verhandelt und beratschlagt. Die Vielzahl der unterschiedlichen politischen Interessen, die sich um Ice Cream, Pascha, das Heilmittel und die Streitigkeiten zwischen all den Stämmen drehen, machen den Roman sehr komplex, was mir an manchen Stellen fast zu viel wurde.
Das, was den Text aber so unvergleichlich macht, ist – wie anfangs schon angedeutet – der Schreibstil. (Ein großes Lob an die Übersetzerin Milena Adam, die hier eine Meisterleistung abliefert.) Ice Cream schreibt als Ich-Erzählerin wie ihr der Schnabel gewachsen ist, in einer sämtliche Grammatik- und Orthografieregeln missachtenden Gossensprache. Aber auch das folgt einer gewissen Logik: Wenn man davon ausgeht, dass ein riesiger Kontinent über Jahrzehnte nur von Minderjährigen gelenkt wird, ist das Erste, wovon sich die Gesellschaft verabschiedet, die Kultur. Die Kids haben für deren Erhaltung gar keine Lebenszeit mehr übrig! Ganz ähnlich hat es David Mitchell in seinem Überroman DER WOLKENATLAS dargestellt. Auch hier gibt es eine postapokalyptische Gesellschaft, der die Kunst der Sprache abhanden gekommen ist, weil sie – wenn es hart auf hart kommt – entbehrlich ist.
Is zwei Wochen her, dass wir Pascha Rou gefunden ham, und er gewöhnt sich gut. Keiner denkt mehr, ihn zu fürchten. Er ist pferdig in seiner milden Achtung, nabo mit unsern Kleinen. Macht seine Aufgaben. Rührt sich auch nich, je wegzugehen. Er wurzelt wie ne Pflanze. (Seite 66)
Die nächsten Tage sind ne klare Bonesse. Wir bleiben beim 495, nem Highway so breit wie n Feld. Er hat nen gleichen Zwillingshighway daneben, diese beiden sind treue Gefährten. Zusamm strecken und schlängeln sie sich über jede ungehaltene Entfernung, bis sie unser neues Connecticut finden. (Seite 243)
Als ich letztens in einem Café das Buch las, sprach mich ein Gast vom Nebentisch darauf an. Wir kamen ins Gespräch und ich erzählte ihm von der Besonderheit der Sprache, worauf er mich ernst anschaute und fragte: »Nervt das nicht tierisch?« Tja, was sollte ich sagen? Nerven ist vielleicht das falsche Wort. Zunächst ist es interessant, diesem Kauderwelsch zu folgen und man gewöhnt sich relativ schnell daran. Später dann, in New York und Washington, erkennt man sogar unterschiedliche Dialekte. Auf knapp siebenhundert Seiten – besonders im sich ziehenden Mittelteil – wird es dann aber doch recht zäh und anstrengend, was einer der Gründe ist, warum ich doch recht lange für das Buch gebraucht habe.
Trotz mancher Längen ist ICE CREAM STAR aber dennoch ein lesenswertes Buch, komplex, spannend und einzigartig geschrieben.
ICE CREAM STAR erschien beim Verlag Matthes & Seitz, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Alle Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet Ihr hier. Eine kleine Bitte noch: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
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[…] ANNETTE – ebenfalls mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet – und Sandra Newmans ICE CREAM STAR sind beste Beispiele dafür, dass experimentelle Literatur und Lesevergnügen durchaus Hand in Hand […]
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