USA 2017 | 477 Seiten
OT: »The Hearts of Men«
Aus dem Amerikanischen von Dorothee Merkel
Klett-Cotta
ISBN: 978-3-608-98313-5
Der Signaltrompeter braucht keinen Wecker. (Seite 11)
Kurze Vorgeschichte: Diesen Roman habe ich in den letzten Tagen während meines Urlaubs gelesen. An einem der heißeren Tage sind wir in ein wunderschön gelegenes Freibad gefahren, um uns ein wenig abzukühlen. Ich saß mit dem Buch und einem Zitroneneis auf einer Bank im Schatten eines mächtigen Baumes, die Kids tobten fröhlich kreischend im Wasser und meine herzallerliebste Angetraute schwamm eisern ihre Bahnen.
Ganz in der Nähe, am Rande des Beckens, beobachtete ich einen Vater, der seinem etwa achtjährigen Sohn beibrachte, wie man erfolgreich Arschbomben ins Wasser setzt. Beim Vater – der mindestens fünfmal so viel wog, wie sein Sohn – endeten die Sprünge jedesmal mit einer imposanten Explosion, der Junge jedoch traute sich nicht so recht. Um ihn etwas anzustacheln, kam der Vater auf die Idee, seinem Sohn Angst zu machen. Nach seinem nächsten Sprung tauchte er ans andere Ende des Beckens, schoss erstaunlich schnell die Leiter hoch und rannte brüllend wie ein wildes Tier auf seinen Sohn zu. Der zuckte zusammen und ergriff die Flucht. Nach einer kurzen Jagd über die Grünfläche hatte der Vater seinen Sohn eingeholt und zurück ans Becken getrieben. »Und jetzt Arschbombe!«, grölte er ihm direkt ins Ohr. Der Junge ging vor Schreck sofort in den Sprung über, erreichte den Pool aber nicht ganz und stieß sich im Fallen das Knie am Beckenrand an. Der Vater sprang hinterher, zog den Jungen aus dem Wasser, setzte ihn auf den Rand und untersuchte das Knie. Der Kleine weinte und trat mit den Beinen nach dem Vater. »Hör auf zu heulen, du Memme!«, schnauzte der ihn an. »Ist doch gar nichts passiert. Ich hab mir mal alle Finger auf einmal gebrochen und das durchgestanden wie ein Mann. Nicht eine Träne hab ich vergossen, und du flennst wie ’n Mädchen wegen so ’nem Pipifax?« Der Junge trat weiter. Da schlug der Mann mit der Faust hart auf das geschundene Knie seines Sohnes. »Du beruhigst dich jetzt, ist das klar! Und wenn du nicht mehr so ’ne scheiß Heulsuse bist, können wir weiterspielen.« Er stieg aus dem Wasser, ließ den Jungen mit seinem Leid am Beckenrand sitzen und ging in Richtung Imbissbude.
Was für ein Arschloch! Warum ich das erzähle? Weil es ganz gut zu DIE HERZEN DER MÄNNER passt, dem zweiten Roman des Amerikaners Nickolas Butler (*1979). Auch hier geht es um Väter und Söhne, um fragwürdige Erziehung, fehlende Zuneigung und die schwierige Aufgabe, in einer schlechten Welt ein guter Mensch zu sein.
Butler erzählt seine Geschichte in guter amerikanischer Manier als Generationsroman über fünfzig Jahre, angefangen in den 1960ern. Drei Zeitebenen präsentiert er und verfolgt dabei – mal ganz nah, mal aus der Ferne – das Leben von Nelson Doughty, der als Junge – bebrillt und klein von Wuchs – von anderen Kindern gemobbt und vom eigenen Vater geschlagen und gedemütigt wird. Als ewiger Einzelgänger stählt er seinen Körper und wird im Vietnamkrieg zu einem Soldat in einem Sonderkommando – eine Erfahrung, die ihn ein weiteres Mal psychisch an die Grenzen bringt.
Sein einziger Freund aus Kindheitstagen heißt Jonathan, den wir Mitte der 1990er als desillusionierten Mann wiedersehen. Seine Ehe geht gerade den Bach runter und er versucht seinem Sohn Trevor – einem klugen Jungen, der an das Gute im Menschen glaubt – beizubringen, dass das Leben ein großer Reinfall ist, und man sich ohne Rücksicht alles nehmen muss, was man in die Finger kriegt, um halbwegs auf seine Kosten zu kommen.
Die dritte Zeitebene führt ins Jahr 2019, das zur Veröffentlichung des Romans noch knapp in der Zukunft lag. Hier lernen wir Rachel kennen, die mit ihrem Sohn Thomas die alljährliche Sommerwoche im Pfadfinderlager verbringt. Sie ist die einzige Frau im Lager, das sonst nur von Vätern und ihren Söhnen besucht wird, und die ganze Zeit den sexistischen Angriffen der von der Leine gelassenen Machos ausgesetzt.
Verbindendes Element aller Romanteile ist ebenjenes Pfadfinderlager in den Wäldern von Wisconsin im Mittleren Westen der USA. Nelson, der als Junge dort traumatische Erlebnisse durchmacht, ist im zweiten Teil als Erwachsener mit Jonathan und dessen Sohn auf dem Weg in das Lager und als alter Mann dort Pfadfinderführer. Ein Pfadfinderlager ist eigentlich ein Ort, an dem Jugendlichen Verantwortung, Disziplin und Pflichtbewusstsein beigebracht werden. Einen solchen Ort als Schauplatz zu wählen, um die komplette Niederträchtigkeit des männlichen Geschlechts aufzuzeigen, um zu präsentieren, auf wieviele unterschiedliche Arten Männer scheitern können, ist ein cleverer, weil ironischer Schachzug, der gut zur vielgescholtenen Doppelmoral der Amerikaner passt. Dabei schlägt sich Butler aber nicht auf irgendeine Seite, wird weder parteiisch, noch moralisiert er. Er bleibt eher im Hintergrund, lässt seine Figuren treiben und beobachtet sie dabei. Es gibt solche und solche Väter, es gibt gute Seelen, miese Typen und unzählige Graustufen dazwischen, manche Väter harmonieren mit ihren Kindern, andere weniger – daran wird sich wohl nie etwas ändern.
Am Ende hätte ich mir etwas mehr Fokussierung auf die vermeintliche Hauptfigur Nelson gewünscht, die mir über weite Strecken zu sehr in den Hintergrund rückt. Einen weiteren – wenn auch nur ganz kleinen – Kritikpunkt muss ich an der Übersetzerin üben, die zu viele Begriffe – besonders aus der amerikanischen Sportwelt – wörtlich überträgt. Die Ausscheidungsspiele (Seite 377) sind die Playoffs und ein Neuanfänger (Seite 69) ist ein Rookie. So etwas muss man nicht übersetzen; das klingt hölzern und nimmt dem Wort die Professionalität. Aber das soll das Buch keinesfalls schmälern. DIE HERZEN DER MÄNNER ist ein guter und äußerst lesenswerter Roman, der in ruhigen Sätzen und starken Dialogen von schwierigen Verhältnissen erzählt, von Familie und Freundschaft in all ihren Facetten.
Zurück zum Freibad. Den Jungen sah ich etwa eine Stunde später wieder. Er war mit einer gigantischen Wasserpistole bewaffnet – ein Spielzeug, das ich extrem verachte – und schoss wahllos und ohne Freude anderen Kindern ins Gesicht, bis ihn der Bademeister zur Ordnung rief. Der Vater saß den ganzen Nachmittag an der Imbissbude, rauchte und trank Bier. Sein Shirt war von Blood in, Blood out. Erklärt das irgendetwas? Keine Ahnung, ich glaube kaum. Ich kann nur sagen: Respektiert Eure Kinder und nehmt sie an, wie sie sind. Gebt ihnen Schutz, wenn sie hilflos, und Trost, wenn sie traurig sind. Und entschuldigt Euch – Verdammt nochmal! – wenn Ihr einen Fehler gemacht habt. Wenn sie erwachsen werden, ohne zu Arschlöchern zu mutieren, habt Ihr alles richtig gemacht. Mehr kann man als Eltern nicht erreichen.
DIE HERZEN DER MÄNNER erschien als Hardcover beim Klett-Cotta Verlag. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet. Bei Heyne ist der Roman bereits als Taschenbuch erschienen. Durch die Rezensionen vom Kaffeehaussitzer und vom feinen reinen Buchstoff wurde ich auf das Buch aufmerksam (und bin froh, es endlich mal gelesen zu haben).
Noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
[…] über Nickolas Butler | DIE HERZEN DER MÄNNER — Bookster HRO […]
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Schöne Besprechung, eines meiner Lieblingsbücher von Butler. Allerdings Was die Pfadfinderlager angeht, dachte ich auch erst so ein bisschen in die Richtung, wie Du, aber der Kaffeehaussitzer hat bei einer Lesung mit Butler erfahren, dass diese Art von Pfadfinderlagern in den USA tatsächlich dazu da sind, die spätere Führungselite zu trainieren. Das ist dort wohl gang und gäbe und hat nicht so viel mit Moral zu tun. Gut gefallen hat mir vor allem der Punkt, dass Nelson, der ja eine gewisse moralische Richtschnur besitzt, von den anderen deshalb so schikaniert wird – so erklärt es ihm der zu seiner Zeit zuständige Pfadfinderführer – weil die anderen merken, dass er etwas besonderes ist und sie ihm nie das Wasser werden reichen können. Das hatte etwas sehr tröstliches für mich.
LG, Bri
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