D 2021 | 180 Seiten
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42993-8
Die Städte kamen sich näher.
(Seite 7)
Nachdem es im letzten Jahr ruhig war um Andreas Maier — zumindest was Romanveröffentlichungen angeht –, dürfen sich die Fans der Ortsumgehung 2021 über einen neuen Teil freuen. DIE STÄDTE ist bereits der achte Band seiner autobiographischen Vergangenheitserkundung und auch diesmal überzeugt der Autor mit gutem Blick für die Details seiner Jugend und setzt seiner Heimat, der südhessischen Provinz, ein kleines Denkmal. Dabei geht es in DIE STÄDTE ausnahmsweise mal nicht vorrangig um die Wetterau, jenem Landstrich, zu dem er im Laufe seines Lebens eine Art Hassliebe entwickelt hat. Viel eher nimmt er uns diesmal mit auf Reisen: zu den Urlaubszielen mit seinen Eltern, den Trampingreisen als Jugendlicher, den Bildungsfahrten als Student.
Italien, Frankreich, Griechenland — ab in den Süden, wo es warm ist. Die Urlaube mit seinen Eltern sind immer gleich. Die Reisen sind exakt durchgeplant und klingen weniger nach Entspannung als mehr nach dem Abarbeiten von Tagesordnungspunkten. Klar, dass das den Abnabelungsprozess des jungen Andreas erheblich beschleunigt. Seine eigenen Reisen dagegen sind chaotischer, die Ziele einfach aus der Luft gegriffen und die Fahrten dorthin völlig planlos. Vor Ort beschäftigt er sich lieber mit sich selbst als mit dem Abklappern von Sehenswürdigkeiten. Er liest, schreibt und sinniert über sich und seinen Platz in der Welt. Er erfährt den Ort, an dem er sich befindet, also besser durch seine Anwesenheit und seine Interaktion mit den Einwohnern, dem Barkeeper oder der Kellnerin.
Diese Art von Urlaub ist mir nicht fremd, denn ich verhalte mich, wenn ich allein in andere Gegenden reise, ähnlich. Das obligatorische Aufsuchen von Sehenswürdigkeiten ist mir zuwider. Ich habe mich immer gefragt, warum die Leute das für so wichtig halten. Bestes Beispiel: Berlin. Seit ein sehr guter Freund von mir vor knapp zwanzig Jahren von Rostock in die Hauptstadt gezogen ist, besuche ich ihn regelmäßig mehrmals im Jahr … zumindest tat ich das bis zum ersten Lockdown. Ich hab nie mitgezählt, aber ich habe bestimmt schon sechzig, siebzig verlängerte Wochenenden bei ihm verbracht und die Stadt sehr gut kennengelernt, ohne je einen Fuß auf die Museumsinsel zu setzen oder den Fernsehturm hochzufahren. Wenn ich eine Stadt erkunde, spaziere ich durch die Wohnviertel oder setze mich in Kneipen und höre den Leuten zu. Das bringt mich der Stadt irgendwie näher als irgendein Gebäude, Denkmal oder Kunstwerk, das ich schon von hundert Bildern kenne. Anders gesagt: Ich würde eher ein Glas Wasser aus der Seine trinken, als mich für das dreimilliardste Foto der Mona Lisa stundenlang am Louvre anzustellen.
Die Gedanken des jungen Andreas Maier sind ganz ähnlich, obgleich erst Jahre später — beim Akt des Schreibens — in ihrer Tiefe vollends ausgelotet. Der Junge selbst hat genug mit sich zu tun, versteht längst nicht alles, hat nur vage Ahnungen. Erst die Beschäftigung mit dieser Zeit als Erwachsener, als gestandener Schriftsteller, bringt Licht ins Dunkel der Erinnerungen. Maiers Stil ist wie gewohnt sehr genau, geradezu sezierend, und reiht sich nahtlos an die vorigen Romane seines Zyklus‘. Er nimmt sich eine Kleinigkeit aus dem großen Fundus an Begebenheiten und kann ganze Seiten damit füllen, diese Kleinigkeit in ihre Einzelheiten zu zerlegen. Das ist manchmal lustig, manchmal rührend, immer aber wohlüberlegt und eloquent dargeboten. Und ganz nebenbei ist DIE STÄDTE der perfekte Roman für unsere Zeit. In diesen Monaten des Lockdowns und den Urlaubsbeschränkungen ist das Reisen mit Andreas Maier doch irgendwie eine kleine Entschädigung.
DIE STÄDTE erschien beim Suhrkamp Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.
Hier die Links zu meinen Rezensionen der anderen Bände:
DAS ZIMMER | DAS HAUS | DIE STRASSE | DER ORT
DER KREIS | DIE UNIVERSITÄT | DIE FAMILIE
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.