I 2015 | 316 Seiten + Anhang
OT: »La bambina e il sognatore«
FolioVerlag Wien
ISBN: 978-3-85256-715-0
Ich haste durch eine nebelverhangene Straße. Ein scharfer Wind nimmt mir den Atem und lässt meine Augen tränen. Ich frage mich, wo ich bin und wohin ich gehe. (Seite 5)
INHALT: Diese ersten Sätze sind der Beginn eines Traums, der den Grundschullehrer Nani Sapienza eines Nachts ereilt. Darin folgt er einem jungen Mädchen, das ihn stark an seine Tochter erinnert, die im zarten Alter von acht Jahren an Leukämie verstarb. Als am nächsten Morgen ein Mädchen aus seinem Heimatort als vermisst gemeldet wird, wird Sapienza hellhörig. Die Vermisste, die kleine Lucia, soll einen roten Mantel getragen haben, genau wie das Mädchen aus dem Traum.
Die Wochen vergehen, die kleine Lucia bleibt verschwunden, es gibt weder Spuren noch Hinweise. Die Polizei und auch die Eltern des Kindes geben auf, erklären das Kind als Opfer eines Gewaltverbrechens für tot und schließen die Akte. Sapienza aber bleibt hartnäckig und ermittelt auf eigene Faust weiter. Bei seinen Recherchen stößt er auf einen anderen Fall von Kindesentführung: ein Mädchen soll von ihrem eigenen Vater an ein Kinderbordell in Kambodscha verkauft worden sein. Auch in diesen Fall steckt der Lehrer seine Nase und macht sich damit keine Freunde. Im Gegenteil – seine Hartnäckigkeit macht ihn sogar selbst zum Verdächtigen.
FORM: Dacia Maraini (*1936), seit Jahren die italienische Hoffnung auf den Nobelpreis für Literatur, schreibt ihre themenreiche Geschichte nüchtern wie einen Kriminalroman herunter. Die Kapitel sind kurz, die Sätze nie länger als sie sein müssen. Das mag zum Plot und zur Hauptfigur (der Ich-Erzähler Sapienza) passen, ermüdet den Leser aber auf Dauer. Die einzige Textspielerei, die sich Maraini leistet, ist das verdammte Federvieh, ein imaginärer Rabe, der Sapienza auf der Schulter hockt, ihm ständig ins Gewissen redet und für Unsicherheit sorgt; eine Art zweites Ich, das den Lehrer sowohl ins Taumeln bringt, als auch immer wieder antreibt.
Richtig stark ist Marainis direkte Prosa bei den Rückblicken auf die Krankheit Sapienzas Tochter und bei den schrecklichen Beschreibungen der Kinderbordelle Kambodschas, diese Kapitel sind schwer zu ertragen. Ich habe selbst Kinder in dem Alter und mir ging die Lektüre schwer ans Herz.
FAZIT: Dacia Marainis Roman behandelt eine Vielzahl von Themen. Das ist ambitioniert natürlich sehr löblich, verwässert den Plot aber ungemein. Leukämie, Kindesentführung, Zwangsprostitution Minderjähriger, ganz nebenbei geht es auch noch um häusliche Gewalt und die allgegenwärtige Terrorgefahr – das ist zuviel für einen Roman. Hinzu kommt der permanent mit dem Zeigefinger wedelnde Grundton des Lehrers, der ein unverbesserlicher Moralist ist; ein Attribut, das, wenn man ihrer Vita etwas folgt, auch der Autorin eigen ist.
Die Welt hat unerträglich schlechte Seiten, das wird niemand abstreiten, und Maraini will ihre Leser auf diese Ungerechtigkeiten aufmerksam machen … aber da schalte ich doch lieber den Weltspiegel ein – drei Sterne.
[…] Chirovici hat mit seinem BUCH DER SPIEGEL mehr versprochen, als er halten konnte, und Marainis DAS MÄDCHEN UND DER TRÄUMER war mir zu moralisch. Rückblickend hat mich aber nur ein Buch richtig verärgert und deswegen geht […]
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