Thomas Pynchon | MASON & DIXON

USA 1997 | 1023 Seiten
OT: »Mason & Dixon«
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-498-05292-8

Schneebälle haben ihre Bahn gezogen, die Wände von Nebengebäuden ebenso wie Vettern und Basen besternt und Hüte in den frischen Wind vom Delaware geschleudert – nun schafft man die Schlitten unter Dach, trocknet und fettet sorglich ihre Kufen, stellt Schuhe im hinteren Flur ab und fällt strümpfig in die große Küche ein, die von früh an in planvollem Aufruhr, untermalt vom Deckelgeklirr verschiedener Pfannen und Schmortöpfe, duftend von Küchengewürz, geschälten Früchten, Nierenfett, erhitztem Zucker – und nachdem die Kinder, in fortwährender Unrast, zum rhythmischen Geklatsch von Teig und Löffel, alles Erdenkliche erschmeichelt und stiebitzt, begeben sie sich, wie den ganzen verschneiten Advent lang an jedem Nachmittag, in ein behagliches Zimmer im hinteren Teil des Hauses, das schon seit Jahren ihrem unbekümmerten Ansturm überlassen.

(Seite 11)

Es ist vollbracht: Mit der abgeschlossenen Lektüre von MASON & DIXON kann ich nach vielen, vielen Jahren endlich einen Haken hinter das Gesamtwerk von Thomas Pynchon machen. Es gab eine Zeit, da habe ich einen Pynchon-Roman nach dem anderem verschlungen und fand sie – mit ein paar Abzügen hier und da – auch alle sehr gut. Ich kann mir rückblickend nicht erklären, warum ich MASON & DIXON so lange hab liegenlassen. Vielleicht hat mich der Umfang immer abgeschreckt, denn seitdem das mit der Bloggerei hier so richtig durchgestartet ist, besteht meine Buchauswahl zum größten Teil aus Neuerscheinungen, da muss ich für einen 90er-Jahre-Tausendseiter schon ordentlich Zeit freischaufeln. Nun, die Zeit habe ich gerade und MASON & DIXON starrt mich seit bald zwanzig Jahren ungelesen und vorwurfsvoll aus dem Regal an. Also wann, wenn nicht jetzt…

Ganz kurz zum historischen Kontext und inhaltlichen Überblick: Die Mason-Dixon-Linie ist der Grenzverlauf der US-Bundesstaaten Pennsylvania und Maryland. Wegen Streitigkeiten zweier mächtiger Familien aufgrund fehlerhafter Landkarten wurden eigens die titelgebenden Wissenschaftler aus Europa eingeschifft, die mit einer finalen Grenzziehung endlich für Ruhe in der Neuen Welt sorgen sollten. Die Vermessung dieser Grenze fand vor der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten statt, ihr Verlauf galt ab da an kulturell als Grenze zwischen den Nord- und den Südstaaten. Damit hat sie geschichtlich gesehen bis heute weit mehr Gewicht als eine simple Linie auf dem Papier.

Quelle: Wikipedia

Der Astronom Charles Mason und der Landvermesser Jeremiah Dixon – Wissenschaftler im Dienste der britischen Krone, die damals noch über die jungen Bundesstaaten herrschte – kennen sich bereits von einem vorherigen Auftrag im südafrikanischen Kapstadt. Sie sind also schon weit herumgekommen und nun also in den unendlichen Weiten Amerikas. Die Vermessung einer geraden Linie durch hunderte Meilen Hinterland war vor zweihundertfünfzig Jahren ein kompliziertes und zeitaufwendiges Unterfangen. Heutzutage lässt man sich einfach von drei, vier GPS-Satelliten finden und weiß sofort, wo man ist – ein jedes Smartphone kann das. Damals musste man des Nachts darauf warten, dass bestimmte Sterne eine gewisse Höhe erreichen, um zu ermitteln in welche Richtung man gerade blickt. Mason und Dixon haben sich also einer Aufgabe verschrieben, die sie Jahre ihres Lebens kosten wird, während sie sich mühsam Yard für Yard und Meile für Meile westwärts vorarbeiten. Dabei sind sie nicht nur der Natur und dem Wetter ausgeliefert, sondern auch den eigenwilligen Bewohnern, deren Land sie gerade teilen.


Wer bei diesem Roman eine historisch genaue Beschreibung der Vermessungsarbeiten erwartet, hat noch nie einen Pynchon-Roman gelesen. Wie es sich für diesen Ausnahmeautor gehört, schlägt der irre komplexe Plot unzählige Haken, es wird pausenlos gesoffen, über Gott und die Welt geschwafelt – gerne auch seitenweise am eigentlichen Thema vorbei – und jede Menge alberne Lieder gesungen. Und Pynchon wäre nicht Pynchon, wenn nicht auch sonderbare Spezies wie sprechende Hunde und magnetische Enten vorkommen würden. Das alles ist aber nicht einfach nur irgendein wirrer Kram, sondern wohldurchdachtes Chaos. Thomas Pynchon zelebriert es in jedem seiner Romane mit großer Freude, sein Publikum bis an die Grenzen der Belastbarkeit mit Informationen, Figuren und Unsinn vollzustopfen und seine eigentliche Story, seine Message irgendwo in all diesem undurchdringlichen Wust zu verstecken. Bei MASON & DIXON kommt noch erschwerend die altertümliche Sprache hinzu. Pynchon verwendet einen Stil, der Mitte des 18. Jahrhunderts gesprochen und geschrieben wurde, was das Verständnis der Szenen nicht gerade erleichtert. Für die deutsche Übersetzung hat Nikolaus Stingl seinerzeit ganz hervorragende Arbeit geleistet – es liest sich wie Goethe auf Extasy.

Diese Art zu erzählen muss man mögen. Bisher habe ich nur zwei Meinungen über Thomas Pynchon herausgehört: Entweder verfällt man ihm hoffnungslos euphorisch oder man kann absolut nichts mit seinen Büchern anfangen. Ich gehöre zur ersten Gruppe, gebe allerdings gerne zu, dass ich bei keinem seiner Romane auch nur die Hälfte verstanden habe. Das ist für mich aber kein großes Problem. Ich lass mich gern von diesem Mann überrumpeln, verausgabe mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht bei der Lektüre, nur um am Ende völlig verwirrt, aber reich beschenkt mein kleines Leben weiterzuführen. Dass diesem grandiosen Schriftsteller noch nicht der Nobelpreis zuerkannt wurde – er ist seit Jahrzehnten ein ganz heißer Kandidat –, kann ich mir nur so erklären, dass Stockholm Angst davor hat, dass Pynchon ihn sich nicht abholen würde – die Schwedische Akademie mag keine Skandale.

Um diese alte und völlig ausgeleierte Frage zu beantworten, welche Bücher ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde, wäre für mich nur eine Antwort sinnvoll: Das Gesamtwerk von Thomas Pynchon. Wenn ich den Rest meiner Tage mit Romanen wie DIE ENDEN DER PARABEL, GEGEN DEN TAG oder eben MASON & DIXON verbringen müsste, könnte ich am Ende meines Lebens vielleicht sagen, ich habe meine Lesezeit gut genutzt.


978-3-498-05292-8

MASON & DIXON erschien 1999 in der Übersetzung von Nikolaus Stingl beim Rowohlt-Verlag als Hardcover, das nur noch antiquarisch erhältlich ist; mittlerweile gibt es den Roman aber auch als Taschenbuch und e-Book. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

5 Gedanken zu “Thomas Pynchon | MASON & DIXON

    • Ich bin kein Literaturwissenschaftler, ich muss und möchte nicht dahinterkommen, WIE etwas funktioniert. Ich erfreue mich gerne daran, DASS es funktioniert. Das macht für mich den Zauber am Lesen aus. Wenn mir jemand einen guten Kartentrick vorführt, genieße ich den Augenblick der Verblüffung und lasse den Trick dann Trick sein. Das Ergründen wäre eine Entzauberung und damit – zumindest für mich – der Tod des Tricks… wäre schade drum. Ich weiß, Du gehst da anders ran, das ist aber nicht mein Weg.
      Sei’s drum. LG

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  1. Oh der liegt bei mir auch noch angelesen rum. Dabei war ich begeistert von „Natürliche Mängel“ was aber wohl sein zugänglichstes Werk ist und ja Mason /Dixon hat schon eine beträchtliche Dicke. Alle Achtung, schön, dass es gefiel. Das macht Mut … irgendwann …

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  2. Und ich habe immer gedacht, ich sei der einzige Verrückte,
    der allen Pynchon-Romane lesen will. Mason-Dixon verstaubt bei mir auf den Nachtisch, aber dein Beitrag hat mich wieder im positiven Sinne daran erinnert, dass ich den Schinken unbedingt lesen will.

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