Stephan Thome | PFLAUMENREGEN

D 2021 | 526 Seiten
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-43011-8

Sie rannte so schnell, dass die Welt vor ihren Augen verschwamm.

(Seite 11)

Die asiatische Insel Formosa – besser bekannt unter dem Namen Taiwan – hat eine sehr bewegte Geschichte. Während der Xinhai-Revolution in China 1911/12 und dem darauf folgenden Untergang des chinesischen Kaiserreiches war die Insel unter japanischer Kolonialherrschaft, ging nach der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg aber an China zurück. Der bis 1949 anhaltende Chinesische Bürgerkrieg führte dazu, dass sich die militärische Elite um den Führer Chiang Kai-Shek nach Taiwan absetzte und dort einen eigenen Staat errichtete, quasi als Gegenentwurf zur kommunistischen Volksrepublik auf dem Festland unter Mao Zedong. In den letzten Jahrzehnten wuchs in Taiwan eine lebendige Demokratie, das Land ist hochentwickelt und die Menschen sind sich ihrer nationalen Identität wohlbewusst. Offiziell unabhängig wurde Taiwan jedoch nie und die Insel ist international nur von wenigen Ländern als eigenständiger Staat anerkannt. Seit Jahrzehnten schwelt zwischen China und Taiwan eine Art kalter Krieg, ein militärischer Angriff seitens Chinas liegt permanent in der Luft, eine Bedrohung, die seit dem 24. Februar 2022 noch einmal viel deutlicher wurde.

Solche historischen Fakten und Daten sind leider immer mit den Namen der jeweiligen Machthabern verknüpft – so lässt sich aber kein Roman erzählen, da kann man ja auch ebenso gut ein Sachbuch lesen. Stephan Thome lenkt in seinem neuen Roman PFLAUMENREGEN den Blick auf diejenigen, die im Schatten jener Politiker ihr Leben meistern müssen, dem einfachen Volk. Er entscheidet sich für die Familiengeschichte von Lee Ching-mei, die im Norden der Insel während des Zweiten Weltkrieges aufwächst. Sie fühlt sich als stolzes japanisches Mädchen – ihr Vorname ist zu dieser Zeit noch Umeko – und sieht für sich und ihr Land eine große Zukunft kommen. Doch die Geschichte verläuft anders als erhofft. Als zunächst tausende Kriegsgefangene auf der Insel abgeladen werden, Japan die Insel an China abtritt und kurze Zeit später Chiang Kai-Shek mit seinem Gefolge aufkreuzt, weht der politische Wind innerhalb weniger Jahre aus drei verschiedenen Richtungen.


Für Umeko – jetzt Ching-mei – ist nichts mehr, wie es war. Früher waren es die Alliierten, vor denen man Angst hatte wie vor wilden Tieren, jetzt sind es die Chinesen. Japanisch – diese stolze und schöne Sprache – ist verpönt und wenn man von der guten alten Zeit spricht, wird man bestenfalls mit Argwohn betrachtet. Doch Ching-mei passt sich an, reift zur Frau, gründet eine Familie und sieht die Dekaden an sich vorbeiziehen. Mit dem Besuch ihres Sohnes Harry schließt Thome seinen langen erzählerischen Bogen in der heutigen Zeit. Harry – eigentlich Chen Hua-li – lebt in den USA und will ein Buch über seine Familie schreiben. Als erste Informationsquelle hat er seine Mutter auserkoren, doch aus Ching-mei – mittlerweile hochbetagt – ist kaum etwas herauszubekommen; die vielen politischen und gesellschaftlichen Umschwünge in ihrem Land, das keines zu sein scheint, haben schlecht verheilte Wunden hinterlassen.

PFLAUMENREGEN ist ein ruhig erzählter Roman, der anhand einer Familiengeschichte die Historie Taiwans der letzten achtzig Jahre aufrollt. Stephan Thome, der Sinologie studiert hat und seit Jahren auf der Insel lebt, kennt sich aus mit der Materie, das merkt man jedem der zwanzig Kapitel an – selbst über die in Taiwan wohl populärste Sportart Baseball gibt es einiges zu lernen. Das Buch zu lesen, ist wie ein sanfter, wohlklingender Geschichtsunterricht. Doch dieser souveräne Schreibstil ist auch eine große Schwäche des Romans. Es gibt keine Ecken und Kanten, keine Ebenen, keine Tiefen – alles ist besonnen und sauber heruntergeschrieben und plätschert so vor sich hin. An manchen Stellen sehnt man sich regelrecht ein Aufbegehren herbei, ein Reißen der Geduldsfäden, ein Ausflippen der Figuren, sie mögen sich doch bitte wenigstens ein Mal vernünftig anschreien und die Meinung geigen … aber vielleicht passt das auch nicht zu den Menschen dort. Dass uns Thome einen der seltenen Blicke auf seine Wahlheimat ermöglicht, ist aller Ehren wert, dennoch wäre hier und da etwas mehr Drama wünschenswert gewesen.


PFLAUMENREGEN erschien im Suhrkamp Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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