Bov Bjerg | SERPENTINEN

D 2020 | 272 Seiten
Claassen Verlag
ISBN: 978-3-546-10003-8

Um was geht es?

(Seite 5)

Gute Frage. Ein Mann ist mit seinem Sohn unterwegs durch die Schwäbische Alb auf den Spuren seiner Jugend und seiner Familie. Eigentlich ein friedliches Bild, romantisch, fast ein bisschen kitschig. Doch es gibt da etwas, das den Frieden gewaltig stört: Der Mann wird verfolgt. Nicht im herkömmlichen Sinne, wie ein Bankräuber von der Polizei oder ein potentielles Opfer von einem Triebtäter verfolgt wird, nein, der Mann wird von einer morbiden Art Familientradition verfolgt, denn seit Generationen wählen die Männer seiner Linie irgendwann den Freitod als Schlusspunkt ihres Lebens.

Urgroßvater, Großvater, Vater.
Ertränkt, erschossen, erhängt.
Zu Wasser, zu Lande und in der Luft.

(Seite 5)

Der Name des Mannes ist Höppner, jener Ich-Erzähler, der in Bov Bjergs Riesenerfolg AUERHAUS als Jugendlicher auf seinen Freund Frieder aufpassen muss, damit der sich nicht das Leben nimmt. Wo man bei AUERHAUS dank des schwarzen Humors und der flapsigen Sprache aber noch herzlich lachen konnte, schlägt Bjerg in SERPENTINEN deutlich düstere Töne an. Jahrzehnte sind vergangen, Höppner ist erwachsen geworden, eine unerträgliche Last liegt auf seinen Schultern, er ist geplagt von Depressionen, Schuldgefühlen und finsteren Gedanken. Wenn es für ihn je so etwas wie Unbeschwertheit gab, ist davon nichts mehr übrig und die Reise zu den Stationen seiner Jugend macht ihn nur noch schwermütiger. Hinzu kommt die Verantwortung seinem Sohn gegenüber. Höppner ist bewusst, wie einfach es wäre, sich dem Familienfluch zu ergeben, aber was wird dann aus dem Jungen? Wäre dessen Schicksal dann nicht gleich mitbesiegelt? Solche Gedanken führen Höppner unweigerlich zur Überlegung, dem Jungen alles zu ersparen, indem er ihn … eine der erschütterndsten Szenen im ganzen Buch. Nein, die suizidale Tradition muss gebrochen werden und Höppner selbst muss den Anfang machen, muss der bessere Vater sein.


Ein zum Teil äußerst beunruhigendes Buch irgendwo zwischen Familiendrama, Depressionbewältigung und Geschichtsunterricht, mit dem es Bov Bjerg (*1965) in diesem Jahr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Es ist nicht immer leicht, sich in den zerhächselten Kapitelstückchen und im Durcheinander der Erinnerungen zurechtzufinden, aber SERPENTINEN entwickelt ein eigenes Tempo, einen Rhythmus, dem man irgendwann ganz automatisch folgt.

Schriftstellerisch bleibt Bjerg seinem Stil treu: Kurze Kapitel, pointierte Sätze, knappe Dialoge, nie länger als nötig. Wie schon in AUERHAUS macht er Gebrauch von Repetitionen, wiederkehrenden Phrasen bei bestimmten Themen, zum Beispiel den Satz »So weit waren wir gekommen«, wenn es um den Körper des Jungen geht. Das macht den Text – unabhängig vom Inhalt – auch künstlerisch interessanter und gehaltvoller. Besondere Stärke beweist Bjerg auch bei der Beschreibung verschiedener sozialer Gruppen, seien es nun einfache Albbewohner oder schwerreiche Unternehmer. Höppner zum Beispiel ist professioneller Keynote-Speaker bei Wirtschaftskongressen und viel im Ausland unterwegs, wo er sich mit hochrangigen Wirtschaftsbossen trifft und bei den Abendveranstaltungen mit diesen ganzen Upper-Class-Leuten in teuren Hotelrestaurants abhängt … und es hasst. Wie Bjerg diesen elitären Menschenschlag von Privat-Uni-Absolventen und Konzernerben beschreibt – wie die sich verhalten, woran die sich erkennen, worüber die sprechen – ist absolut stimmig und glaubhaft.

SERPENTINEN ist ein starkes Buch geworden, stärker noch als AUERHAUS, weil es ernster ist und tiefer in den Abgründen des Ichs schürft. Aber vielleicht sollte man die beiden Romane auch nicht miteinander vergleichen, da SERPENTINEN – auch wenn es das Personal zum Teil übernimmt – keine Fortsetzung ist. Es ist ein eigenständiger Roman, der einmal mehr zeigt, dass Bov Bjerg jemand ist, der das Leben von vielen Seiten kennt und weiß, wie man darüber schreiben, wie man sich den dunkelsten Gedanken nähern kann.


SERPENTINEN erschien im Claassen Verlag. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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