José Saramago | DIE GESCHICHTE DER BELAGERUNG VON LISSABON

P 1989 | 431 Seiten
OT: »História do Cerco de Lisboa«
Aus dem Portugiesischen von Andreas Klotsch
Atlantik Verlag
ISBN: 978-3-455-00060-3

Der Korrektor sagt, Jawohl, dieses Zeichen heißt Deleatur, wir verwenden es, wenn es etwas zu streichen und zu tilgen gilt, das Wort selbst drückt es aus, und es gilt sowohl für einzelne Buchstaben als auch für ganze Wörter […]. (Seite 9)

Kleine Geschichtsstunde gefällig? Im Jahre 1139 wurde Dom Afonso Henriques durch die gewonnene Schlacht von Ourique, einer Stadt im Süden Portugals, die er von den Mauren befreite, zum ersten König Portugals. Acht Jahre später, 1147, eroberte er auch das Gebiet um Santarém. Nur die große Stadt Lissabon war immer noch in maurischer Hand. Im selben Jahr startete in Mitteleuropa der Zweite Kreuzzug in Richtung Palästina. Ein Teil der Kreuzfahrer reiste auf dem Seeweg und somit auch an Portugals Küste entlang. Dom Afonso bat die Kreuzritter um Unterstützung bei der Belagerung von Lissabon und sie einigten sich auf den Deal, dass ihnen das Recht der Plünderung der Stadt zustünde und sie sie anschließend dem König überließen. So wurden die Heereskassen der Kreuzritter gefüllt und Afonso konnte sich endlich seine Macht über ganz Portugal sichern. (Quelle: Wikipedia)

In Saramagos Roman nun begleiten wir den Korrektor Raimundo Silva bei seiner Arbeit. Bei dem Auftrag, ein Geschichtsbuch über ebenjene Belagerung auf Fehler zu durchsuchen, fügt er – einer subversiven Laune folgend – das unscheinbare Wörtchen nicht ein und ändert damit den Lauf der Geschichte. Denn dieses kleine nicht, an der richtigen Stelle platziert, bedeutet, dass die Kreuzfahrer dem König ihre Hilfe verweigern, ihn eben nicht bei der Belagerung von Lissabon unterstützen.

Die Verlagsleitung ist empört. Doch statt Silva zu feuern, nimmt sich Maria Sara – Silvas neue Vorgesetzte – ein Herz und spornt ihn an, die geänderte Geschichte fortzuschreiben. Mit großem Elan macht sich Silva daran, eine gewaltige Uchronie zu ersinnen, die auch ohne die Kreuzritter die Stadt zum Ziel hat, in der er lebt – das heutige Lissabon.


In gewohnter Kunstfertigkeit verwebt José Saramago (1922–2010) in DIE GESCHICHTE DER BELAGERUNG VON LISSABON gleich zwei Erzählstränge miteinander. Denn neben der titelgebenden historischen Begebenheit – obgleich von den Fakten abweichend –, lernen wir auch die Geschichte des Korrektors Silva kennen. Diese Figur hat den typischen Saramago-Charakter: intelligent, introvertiert, ewig zweifelnd. Durch die Beziehung zu Maria Sara, mit der er später ein sexuelles Verhältnis beginnt, durchlebt Silva eine enorme Entwicklung, die sich auch auf sein Schreiben auswirkt – eine meisterhafte Verknüpfung der Ebenen.

Stilistisch gibt es – auch das ist bei Saramago Usus – das volle Brett: Die Sätze schlängeln sich meterlang durch die Seiten; die wörtliche Rede ist ohne Anführungszeichen, nur durch Kommata getrennt, in den Fließtext eingebettet; das Vokabular ist gehoben und wirkt oftmals fast antiqiert, was zwar durchaus zum mittelalterlichen Kriegstreiben passt, weniger aber zum Korrektor und seiner Angebeteten. Auch die sich sehr zäh hinziehende Liebesbeziehung könnte eher einem Austen-Roman entstammen – Silva und Sara liefern sich vor dem ersten Kuss einen immerhin dreihundert Seiten langen Eiertanz nach dem Muster: Du legst zuerst auf, Nein du legst auf, Nein du … da ist es manchmal mühsam, am Ball zu bleiben.

Aber das soll den Wert des Buches nicht schmälern. DIE GESCHICHTE DER BELAGERUNG VON LISSABON ist ein kunstvoll geschriebener und dicht verwobener Roman. Er ist Liebesgeschichte und Historienepos in einem, und gerade aus heutiger Sicht, in Zeiten von Fake News und Alternative Facts, als geradezu visionär einzustufen.


9783455000603

DIE GESCHICHTE DER BELAGERUNG VON LISSABON erschien als Taschenbuch beim Atlantik-Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Alle weiteren Informationen findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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