D 2022 | 288 Seiten
Berlin Verlag
ISBN: 978-3-8270-1438-2
Einmal träumte sie, dass sie eine schwimmende Jägerin sei.
(Seite 7)
Wenn bei der Nutzung von Facebook und anderen sozialen Netzwerken die Internetverbindung schlecht ist, brauchen Bilder unter Umständen eine kurze Zeit, um geladen zu werden. Für die Dauer des Ladevorgangs kann man manchmal die Tags sehen, die für das Bild gespeichert sind – „Frau, lächelnd, Hund“ beispielsweise; kurz darauf sieht man Tante Ingrid, wie sie Hasso fröhlich durchs Fell wuschelt. Diese Tags werden teilweise von Künstlichen Intelligenzen vergeben, meistens jedoch von Content Moderatoren, die für einen Hungerlohn massenweise Bilder und Videos auswerten. Zu ihren Aufgaben zählt auch das Bewerten, ob ein Bild oder ein Video illegalen Inhalts ist. Pornografie, Gewalt, Mord und Totschlag – die Content Moderatoren sehen alles und müssen entscheiden, ob das Medium gelöscht werden muss oder nicht. Ein erfüllender Job ist das nicht, ganz im Gegenteil, auf Dauer sind psychische Belastungsstörungen kaum zu vermeiden.
Tiffany Ritter – genannt Tiff – ist alleinerziehende Mutter, die ihren Unterhalt hauptsächlich als Content Moderatorin verdient. Tagsüber kümmert sie sich um ihren Sohn und versucht, mit ihren Alltagsängsten – die vor allem durch den Job entstanden sind – durchs Leben zu kommen; des Nachts nimmt sie einen Content-Auftrag nach dem anderen an und wird immer wieder an ihre mentalen Grenzen gebracht. Erleichterung verspricht die windige Firma ExtraEye, die für relativ gutes Geld Leute sucht, die sich Überwachungsvideos anschauen, in denen kaum etwas passiert. Stundenlang nur Aufnahmen von Containern, Lagerhallen und leeren Fluren – langweilig, uninteressant, austauschbar. Tiff bekommt die Videos beliebig zugeteilt, erkennt nach kurzer Zeit aber einen Ort wieder, den sie schon mehrmals beobachtet hat: Irgendwo auf der Welt hat sich vor einem Rolltor ein Obdachloser mit seinem Hund eingerichtet und liest dem Tier jede Nacht aus einem Buch vor. Tiff baut eine Art Zuneigung zu diesem Fremden auf – er wird ihre Zuflucht, ihr ruhender Pol in der wirren digitalen Welt … bis er eines Nachts von ein paar Männern überfallen und verschleppt wird. Tiff beginnt zu recherchieren, wo und wann die Aufnahmen gemacht wurden, hangelt sich von Hinweis zu Hinweis, nimmt Kontakt zu Menschen auf, die tausende Kilometer entfernt von ihr wohnen – und bricht dabei jeden Vertragspunkt mit ExtraEye, denn sie ist zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet.
Berit Glanz jagt in AUTOMATON jenen Fragen nach, die sie in ihrem Debütroman PIXELTÄNZER schon angerissen hat: Wie verbindet man die digitale mit der realen Welt? Wie kann man sich moralisch korrekt verhalten, an einem Ort, an dem dieser Eckpfeiler der Zivilisation nicht zu existieren scheint? Was Glanz in ihren Texten macht, ist eine neue Art der Philosophie; sie untersucht alte ethische Grundfragen in einem neuen digitalen Umfeld. Wenn sie sich Gedanken über einen Mann macht, der vor Jahren zufällig von einer Street-View-Kamera fotografiert wurde – Wer ist das? Wie heißt er? Geht es ihm gut? Lebt er noch? Hat er Kinder? –, holt sie unweigerlich die virtuelle, unpersönliche, unverfängliche Welt ins Diesseits. Der Mann ist plötzlich nicht mehr nur eine Ansammlung von Pixeln auf einem Monitor, sondern die imaginäre Möglichkeit einer Bekanntschaft. Diese Art von Überlegungen über das Netz und die Schnittstellen zur realen Welt kamen mir das letzte Mal bei Samantha Schweblins HUNDERT AUGEN unter die Lesebrille, ein Roman, den ich ebenfalls sehr empfehlen kann.
Neben dem Handlungsstrang um Tiff, erzählt Glanz auch die Geschichte von Stella, einer Bekannten des Obdachlosen aus dem Überwachungsvideo, die – anders als Tiff – völlig im Hier und Jetzt lebt. Sie ist der Natur verbunden und das fortschrittlichste in ihrem Leben ist ein Festnetztelefon. Dieser zweigleisigen Erzählart bleibt Glanz in Bezug zu ihrem Debüt ebenfalls treu – war es bei PIXELTÄNZER aber noch die Zeit von rund hundert Jahren, die die Ebenen voneinander trennte, ist es hier die Entfernung von gut achttausend Kilometern – und dennoch kommt ein Kontakt zustande.
AUTOMATON ist ein Roman am Puls der Zeit, der genau die richtigen Fragen stellt und ganz nebenbei das Licht in eine der dunkelsten Ecken der Netzarbeit wirft. Unbedingt lesen!
AUTOMATON erschien beim Berlin Verlag. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Das klingt wirklich richtig spannend. Mit dem Konzept von Content Moderator*innen bin ich letztens erst im Roman „Creep“ konfrontiert wurden. Darin wird das Thema kurz angeschnitten und mir war absolut nicht bewusst, dass es so etwas überhaupt gibt. Aber natürlich – irgendwer muss den Job machen, wenn wir „saubere“ Inhalte sehen wollen. Und dass mir (und sicherlich auch anderen) das gar nicht bewusst ist/war, macht es nur umso traurig.
Ein sicherlich wichtiger Text, der auch Dinge aufzudecken scheint, von denen wir eigentlich nichts wissen wollen, aber dringend sollten. Danke für die Vorstellung!
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Ja, das ist wirklich keine schöne Arbeit. Die Leute werden oft unterbezahlt und ausgenutzt, und die psychischen Belastungen kann mag ich mir gar nicht erst vorstellen. Echt schlimm… 😞
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[…] den aktuellen Veröffentlichungen von Joshua Cohen und Berit Glanz habe ich mir in diesem Frühjahr auch den neuen Roman von Franziska Hauser sehnlichst […]
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