D 2018 | 156 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-04776-9
Trotz ihrer Unruhe fällt ihr der Mann auf, der sich einige Stuhlreihen vor ihr umgedreht hat und sie anstarrt, er beschirmt sogar die Augen mit der Hand. (Seite 11)
INHALT: Diesen Mann – Ludwig, das ewige Kind: verspielt, verschmust, eigensinnig und jähzornig – wird April schon bald heiraten. Er wird für die nächsten Jahrzehnte der wichtigste Mensch an ihrer Seite. Die ersten Jahre sind die glücklichsten ihres Lebens. Ludwig bringt sie zum Lachen, zum Nachdenken, er inspiriert sie zum Schreiben und gibt ihr finanziellen Rückhalt. Als ehrgeiziger und einflussreicher Upper-Class-Chirurg hebt er sie in höhere soziale Kreise, verhilft ihr zu beruflichen Chancen, an die sie ohne ihn nie gekommen wäre. Das Schicksal meint es nach all dem Leid also doch noch gut mit ihr?
Nein, denn der Alltag fordert seinen Tribut. Ludwig denkt nur noch an sich und kapselt sich ab, verliert sich in einer der zahlreichen Schlachten im ewigen Karrierekrieg. Und April, die die Spitzen ihrer Launen seit Jahren mit Tabletten abstumpft, agiert nur noch wie im Halbschlaf. Als das Ende kaum noch abzuwenden ist, beginnt ein zermürbender Rosenkrieg, der Ludwigs wahres Gesicht entblößt.
FORM: Im dritten und finalen Teil ihrer autobiografischen Trilogie, die mit der Kindheit begann und übers Jugend- und Erwachsenenleben reichte, führt uns Angelika Klüssendorf (*1958) nun in das Eheleben ihrer Heldin. Ihrem Stil weiterhin folgend, sind die Sätze auch hier kurz und knapp, fast schmucklos, jedoch unfassbar zielsicher – jeder Satz trifft ins Schwarze; man weiß genau, was Klüssendorf sagen will, auch – und besonders – zwischen den Zeilen. Hier schreibt eine Frau, die weiß, was es heißt zu leben und zu lieben, betrogen und enttäuscht zu werden. Und alles ohne jegliches Gejammere, mit einer ungeheuren inneren Kraft, fernab vom schwülstigen Liebesgedöns der sogenannten Frauenromane – Was für eine Bereicherung!
Der größte Gewinn des Buches aber ist Ludwig – eine Person, so charismatisch, dass die Protagonistin daneben nahezu verblasst. Hier beweist Klüssendorf ihr ganzes Können und schafft eine Figur mit so viel Tiefe, dass sie fast greifbar ist. Selten habe ich einen Charakter so treffend und verständlich beschrieben gesehen, wie hier – noch dazu auf so geringer Seitenzahl. Die Entwicklung, die Ludwig in den Jahren durchmacht, ist beachtlich: zunächst sympathisch, neugierig und verträumt, wird er nach und nach zum gefürchteten Gegenspieler, der mit geradezu unheimlicher Härte zuschlägt.
Nun ist es ja kein großes Geheimnis, dass Angelika Klüssendorf in den hier beschriebenen Jahren mit dem umstrittenen Journalisten und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher (1959-2014) verheiratet war. Das macht JAHRE SPÄTER zu einem Schlüsselroman und sofort erhält Ludwig ein Gesicht. Ob dieser Umstand den Reiz der Figur ausmacht, ihn vielleicht sogar vergrößert … wer weiß? Ich kann nur sagen: Mit Ludwig hat Angelika Klüssendorf eine Figur geschaffen, die sich mir eröffnet hat, wie selten eine andere zuvor.
Der Roman endet mit der Idee zum ersten Satz aus DAS MÄDCHEN, führt also wieder an den Anfang zurück und bildet so eine kunstvolle Schleife. Muss man die drei Teile nun als ein Ganzes hintereinander weg, oder kann man sie auch einzeln lesen? Da APRIL und JAHRE SPÄTER viele Querverweise auf die Kindheit der Hauptfigur enthalten und diese Verweise ohne Kenntnis des ersten Teils ihre Wirkung verfehlen könnten, ist es schon ratsam, alle drei Teile der Reihe nach zu lesen – was ich hiermit auch jedem ans Herz legen möchte. Mit zusammen weniger als 600 Seiten ist das auch für Sonntagsleser machbar.
FAZIT: Dieser Roman ist ein ganz heißer Anwärter auf den Deutschen Buchpreis. Mal sehen, ob JAHRE SPÄTER es wie seine Vorgänger auf die Shortlist schafft – im Spätsommer gibt’s ein Update. Für mich schon jetzt eines der Bücher des Jahres. Fünf Sterne!
Update 14. August 2018: Auf der Longlist steht der Titel schon mal…
JAHRE SPÄTER erschien beim Verlag Kiepenheuer & Witsch. Alle weiteren Informationen findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
So wie Klüssendorf Ludwig beschreibt, geht es womöglich nur, wenn man einem Menschen sehr nahe war und dann mit Abstand zurückblickt … Schöne Rezension! Meine steht noch aus. Dafür bin evtl. mit Andreas Maier schneller …
viele Grüße!
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Vielen Dank! Maier muss warten, Cohen hat Vorfahrt. Aber ist ja kein Wettkampff…
Beste Grüße zurück!
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Da bin ich gespannt, was du zu Cohen schreibst. Den lasse ich erst mal links liegen
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[…] Mahlke dreht in ARCHIPEL die gewohnten Fragen also einfach um. Aus Wie-geht-es-mit-uns-weiter? macht sie Wie-sind-wir-so-geworden?, ein Kunstgriff, der nicht zuletzt dank ihrer schriftstellerischen Fertigkeiten vollends aufgeht. Mahlkes Sprache wirkt leicht, verzichtet aber nicht auf stilistische Tricks, was den Anspruch ihres Werks erheblich steigert. Noch dazu beendet sie den Roman mit dem Satz: Auf die Zukunft! Für mich der wohl »beste letzte Satz« des Jahres (knapp gefolgt von Angelika Klüssendorf). […]
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