USA 1969/2020 | 192 Seiten
OT: »Slaughterhouse-Five«
Text von Ryan North | Illustriert von Albert Monteys
Übersetzt von Matthias Wieland
Cross Cult Verlag
ISBN: 978-3-96658-504-0
All dies erlebte Kurt wirklich – mehr oder weniger.
(Seite 9)
Genau heute, am 11. November 2022, hätte der amerikanische Autor Kurt Vonnegut seinen hundertsten Geburtstag feiern können, wäre er 2007 nicht die Treppe heruntergestürzt und an den davongetragenen Kopfverletzung gestorben – so ist das. Da mir dieser Autor sehr wichtig ist – und ich das Gefühl habe, dass er hierzulande gerade noch so viel Aufmerksamkeit bekommt, um nicht vollends in Vergessenheit zu geraten –, habe ich mir gedacht, ich präsentiere mal ein kleines Special zu diesem wahrhaft fantastischen Schriftsteller.
Kurt Vonnegut Jr. wurde 1922 in Indianapolis als jüngstes von drei Kindern in eine wohlhabende, deutschstämmige Familie geboren. Der Vater war ein erfolgreicher Architekt, die Mutter kam aus einer Brauereidynastie – dem Glück der Familie stand eigentlich nichts im Wege, doch als die Weltwirtschaftskrise in den Dreißigern das Land in die Mangel nahm, gingen die Vonneguts fast vor die Hunde. Der Vater verlor jeglichen Lebensmut, die Mutter gab sich dem Alkohol hin. Der grundsätzliche Pessimismus, den man später – gepaart mit jeder Menge Sarkasmus – in allen Büchern und Texten Kurt Vonneguts findet, hat seine Wurzeln ohne Zweifel in dieser Phase der familiären Schicksalsschläge.
Während seines Studiums an der Cornell University in Ithaca, NY – wo er erste journalistische und literarische Erfahrungen sammeln konnte –, brach mit der Bombardierung Pearl Harbors der Zweiten Weltkrieg auch in den Vereinigten Staaten aus. Kurt wurde zum Armeedienst berufen, nach Europa verfrachtet und kurz nach seiner Ankunft in den hart umkämpften Ardennen von der Wehrmacht zusammen mit tausenden anderen Soldaten gefangen genommen. In einem Viehwaggon ging es per Zug nach Dresden, wo er interniert wurde und in einem umfunktionierten Schlachthaus Zwangsarbeit leisten musste. Am 13. Februar 1945 begann die Bombardierung der Alliierten Luftstreitkräfte, die die Stadt in vier langen Angriffswellen dem Erdboden gleichmachte. Vonnegut überlebte diese Tage im Keller jenes Schlachthauses, das viele Jahre später den Titel seines literarischen Hauptwerkes schmücken sollte … aber dazu später.
In den Jahren nach dem Krieg, zurück in den Staaten, brachte Vonnegut sein Studium zu Ende, heiratete seine Jugendliebe Jane, wurde dreifacher Vater und arbeitete in verschiedenen Jobs, die ihn alle zwar über Wasser hielten, aber nicht so recht weiterbrachten. Ein Familienunglück sorgte dafür, dass die Vonneguts mit einem Mal sechs, statt drei Kinder hatten – innerhalb von ein paar Tagen starb Kurts Schwester Alice an Krebs und ihr Mann bei einem Eisenbahnunfall – so ist das. Sie adoptierten die Kinder der beiden und wurden so zu einer Großfamilie. Während dieser ganzen Jahre schrieb Kurt unermüdlich Kurzgeschichten, die für kleine Gagen in Zeitschriften veröffentlicht wurden. 1952 schließlich wurde sein erster Roman PLAYER PIANO veröffentlicht, doch es sollten noch viele Jahre vergehen, bevor Vonnegut auch außerhalb seines kleinen Wirkungskreises wahrgenommen wurde.
Die Veröffentlichung von SCHLACHTHOF 5 machte ihn schlagartig zum international gefeierten Schriftsteller und sorgte für seine finanzielle Unabhängigkeit. Er kaufte sich – nach der Scheidung von seiner Frau Jane – ein kleines Stadthaus in Manhattan, in dem er bis zu seinem Treppensturz lebte, so ist das. Literarisch arbeitete Vonnegut unermüdlich an seinen Hauptthemen weiter: die Schrecken des Krieges und die Traumata, die daraus hervorgehen; seine kritische Haltung allem Religiösem gegenüber und sein Pessimismus, was die Zukunft der Menschen angeht, wenn sie sich weiter so freudig in den Kapitalismus stürzen. An seine großen Erfolge der späten Sechziger Jahre konnte Vonnegut nie wieder anknüpfen, dennoch blieb er einer der kritischsten Chronisten seines Landes.
Das Vonnegut’sche Gesamtwerk umfasst über hundert Kurzgeschichten – von denen einige in Amerika Kultstatus genießen –, dutzende Essays und Zeitungsartikel und vierzehn Romane. Obwohl Vonnegut der endgültige Durchbruch erst relativ spät gelang, wird die Schaffensphase zwischen 1959 und 1973 rückblickend als seine wichtigste angesehen. Die Romane – chronologisch geordnet und in Originaltiteln – sind folgende:

- 1952: PLAYER PIANO
- 1959: THE SIRENS OF TITAN
- 1962: MOTHER NIGHT
- 1963: CAT’S CRADLE
- 1965: GOD BLESS YOU, MR. ROSEWATER
- 1969: SLAUGHTERHOUSE-FIVE
- 1973: BREAKFAST OF CHAMPIONS
- 1976: SLAPSTICK
- 1979: JAILBIRD
- 1982: DEADEYE DICK
- 1985: GALÁPAGOS
- 1987: BLUEBEARD
- 1990: HOCUS POCUS
- 1997: TIMEQUAKE
Jedes dieser Bücher ist mindestens ein Mal ins Deutsche übertragen worden, allerdings liegen manche Übersetzungen schon bald sechzig Jahre zurück, haben in dieser Zeit also schon ordentlich Staub angesetzt. Als großer Freund von Neuübersetzungen würde ich mir sehr wünschen, dass sich die Verlage, die derzeit die Rechte auf die Romane besitzen, zusammentun und eine schöne Vonnegut-Werksausgabe herausbringen. Oder, wenn schon nicht neu übertragen, dann doch wenigstens in neuem Look wiederveröffentlichen, damit die alten zerfledderten Ausgaben endlich abgelöst und ausgetauscht werden können. Nachdem vor ein paar Jahren der Hamburger Verlag Hoffmann & Campe mit der Neuübersetzung von SCHLACHTHAUS 5 mit gutem Beispiel voranging, folgt im März 2023 der Heyne-Verlag mit der Neuausgabe von DIE SIRENEN DES TITAN. Aber das darf noch nicht alles sein! Jeder der Romane ist hervorragend, hat seine ganz eigene Thematik, aber den unverkennbaren Vonnegut-Stil: Kurze, prägnante Sätze, melancholische Grundstimmung, absurde Komik und ausufernde, in tiefste Metaebenen vordringende Gedanken irgendwo zwischen Postmoderne, Science Fiction und Philosophie. Ich bin mir sicher, dass eine Werksausgabe ein großes Publikum erfreuen und auch neue Fans finden würde – ich jedenfalls wäre der erste Käufer!
Doch kommen wir nun zu meiner heutigen Buchempfehlung…

Die meisten der Romane von Kurt Vonnegut habe ich auf Englisch gelesen, weil ich die alten Fledderhefte auf Deutsch nicht im Regal haben möchte. SCHLACHTHAUS 5 dagegen habe ich gleich mehrfach zuhause: die alte Rowohlt-Taschenbuchausgabe, die Neuübersetzung von Hoffmann & Campe im Hardcover, ein Original-Paperback von Dell Press (das mit dem großen V drauf) und – seit Neuestem – die Graphic Novel, veröffentlicht bei Cross Cult.
Für diejenigen unter Euch, die die Geschichte von SCHLACHTHAUS 5 tatsächlich noch nicht kennen, hier ein kleiner Überblick: Der amerikanische Soldat Billy Pilgrim stakst mit einigen Kameraden durch den belgischen Schnee im eisigen Winter 1944. Billy ist einfach nicht für den Krieg gemacht: er mag nicht kämpfen, kann sich schlecht orientieren und hat auch sonst wenig Verständnis für Begriffe wie Patriotismus oder Soldatenehre. Er friert viel und wirkt kränklich, wird deshalb ständig von seinem Kameraden Roland Weary verspottet, der von großen Ruhmestaten träumt. Die kleine Einheit wird von den Nazis aufgegriffen und per Zug in ein Gefangenenlager nach Dresden geschickt. Auf dem Weg dorthin stirbt Weary an Wundbrand, behauptet aber kurz vor seinem Tod, dass Pilgrim daran schuld sei. Die Mitgefangenen verachten Pilgrim daraufhin, einer von ihnen schwört sogar Rache.
Das ist der Moment, in dem Billy Pilgrim aus der Zeit fällt. Er beginnt, sein Leben zu verschiedenen Zeitpunkten zu leben, reist völlig willkürlich in die Zukunft und die Vergangenheit, sogar vor seine Geburt und nach seinen Tod. Er weiß, dass Dresden den Tod für viele bringen wird, dass er nach dem Krieg ehrenvoll aus der Armee entlassen werden, aber noch jahrelang an den psychischen Folgen leiden wird. Er erfährt, dass er heiraten, Kinder haben und ehebrechen wird. Und er erlebt, wie er irgendwann von Außerirdischen entführt und auf den Planeten Trafalmadore gebracht werden wird. Dort wird er in einen Zoo gesperrt und muss sich mit anderen Entführten paaren … WTH! Billys achronisches Leben wird zu einem Rausch aus Gewesenem und Kommendem, der ihn zu zerstören droht und als Auslöser dieses Mindfucks stehen allein die Schrecken des Krieges.
Die Idee, eine Geschichte dieses Formats als Graphic Novel zu adaptieren, ist ebenso ambitioniert wie grandios – SCHLACHTHAUS 5 ist praktisch wie für ein Comic gemacht. Es hat dutzende Settings und verschiedenste Atmosphären, an denen sich ein Zeichner austoben kann, und in all dem wirren und bunten Treiben gibt es wunderbare Figuren mit hohem Wiedererkennungswert. Textlich hält sich die Adaption ziemlich dicht an die Buchvorlage – ich habe ein paar Seiten lang parallel gelesen –, streut aber auch hier und da mal ein kleinen Meta-Gag ein, der nochmal betont, dass es sich nicht um den Roman handelt. Ich hatte überlegt, ob es für die Lektüre dieses Comics eher förderlich oder hinderlich ist, die Geschichte dahinter schon zu kennen. Ich denke, bei jeglicher Art von Romanadaption – sei es nun Film, Theater oder eben Graphic Novel – ist die große Herausforderung stets, gleichzeitig das unbeleckte Publikum von der Geschichte zu überzeugen und den Anderen etwas zu liefern, das sie vorher nicht wussten. Diesen Spagat meistern der Texter Ryan North und der Zeichner Albert Monteys mit Bravour. Besonders die Bilder sind großartig und – der Geschichte folgend – in vielen verschiedenen Stilen zu Papier gebracht. Sehr gefallen haben mir auch die kleinen Elemente, die die Zeitsprünge miteinander verbinden.
Meiner Meinung nach ist diese Version von SCHLACHTHAUS 5 mehr als gelungen. Sie erzählt nicht nur die Geschichte, sondern verweist auch auf den Charakter Vonneguts, unterstreicht seine Funken sprühende Kreativität, seinen schwarzen Humor genauso wie seine Enttäuschung der Menschheit gegenüber. Ich glaube, wenn er diese Graphic Novel selbst noch miterlebt hätte, er würde sie genauso feiern wie ich es jetzt tue. Also: Falls Ihr mal ein kleines Kunstwerk in den Händen halten wollt oder noch ein Weihnachtsgeschenk sucht, macht Ihr mit diesem Schmuckstück nichts verkehrt.
Die Graphic Novel zu SCHLACHTHOF 5 erschien in wie immer hervorragender Qualität beim Cross Cult Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr (noch mehr) Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet. Die beiden Fotos von Kurt Vonnegut und die Cover der Originalausgaben seiner Romane habe ich der Wikipedia entrissen.
Eine kleine Bitte noch: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Besten Dank, Stefan, für diese kenntnisreiche und unterhaltsame Einführung zu einem Schriftsteller, den ich bisher nur dem Namen nach kenne. (Ja, und ein Weinachtsgeschenk habe ich jetzt auch schon parat!)
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Viel Freude damit und beim Entdecken dieses grandiosen Autors. Seine Bücher sind eine wahre Fundgrube. ✌️
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Toller Beitrag. Danke
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Sehr gern! Ist ein bisschen länger geworden als beabsichtigt, hat aber viel Spaß gemacht. Danke fürs Lesen!
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Ahh, seit Jahren ist es nix mit Vonnegut. Wir verstehen uns nicht, oder ich besser gesagt, ich weiß nicht ob es an der Übersetzung liegt, aber immer wenn ich es versucht habe, wollte ich irgendwann nicht mehr. Eine GN könnte doch der niederschwellige Zugang sein. Merci für diese begeisterte Vorstellung und Einblicke. Dat Ding muss her. Denn ich habe immer noch das Gefühl sonst etwas zu verpassen. 😉
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Viel Spaß mit der Graphic Novel, vielleicht wird’s ja noch was mit Dir und Kurti. 😄
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Danke vielmals für diese interessante Zusammenfassung von Kurt Vonnegut:) Das Buch SCHLACHTHAUS 5 hat mich damals sehr berührt.
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[…] jeder Neuerscheinung eines Buches von Kurt Vonnegut bin ich sofort dabei. Diesmal ist es sein zweiter Roman DIE SIRENEN DES TITAN von 1959, der zwar […]
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