D 2021 | 108 Seiten
Piper
ISBN: 978-3-492-07117-8
Wenn gesagt wird, Fotos lügen, dann eigentlich nur, weil wir mit der Wahrheit, die in einem bestimmten Foto steckt, nicht einverstanden sind.
(Seite 5)
Der österreichische Schriftsteller Heinrich Steinfest ist mit den Kriminalromanen um den Privatdetektiv Markus Cheng berühmt geworden. Seine Bücher, die gekonnt den Spagat zwischen Humor und Mystery meistern, begeistern seit Jahren sowohl die Kritik als auch das Publikum. Doch auch die Veröffentlichungen abseits der Kriminalliteratur wurden in der Vergangenheit große Erfolge. Spätestens mit seinem Roman DER ALLESFORSCHER, mit dem er 2014 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, war ihm der Ruf eines ernstzunehmenden Schriftstellers garantiert. Die darauf folgenden Romane, wie DAS GRÜNE ROLLO, DAS LEBEN UND STERBEN DER FLUGZEUGE oder DIE BÜGLERIN waren allesamt große Erfolge. Was viele von Steinfests Geschichten gemein haben, ist ein kleines, aber entscheidendes surreales Element, ein Knick in der Zeit beispielsweise, oder ein Portal zwischen den Dimensionen. Und auch in seinem neuen Buch AMSTERDAMER NOVELLE scheut der Autor nicht davor zurück, dieser altehrwürdigen, aber doch etwas aus der Mode gekommenen Prosaform seinen ganz persönlichen Stempel aufzudrücken.
Alles beginnt mit einem Foto. Roy Paulsen, seines Zeichens Visagist beim Fernsehen, bekommt von seinem Sohn dieses Foto vorgelegt. Darauf zu sehen ist Roy höchstselbst, wie er auf einem Fahrrad vor einem Haus in einer Amsterdamer Straße entlangfährt. Roy jedoch kann sich nicht erklären, wie dieses Foto zustandekommen konnte. Er kennt weder das Fahrrad, noch das Haus oder die Straße. Und viel entscheidender: Er war noch nie in Amsterdam. Das Foto jedoch zeigt eindeutig ihn, ohne jeden Zweifel. Diese Unerklärlichkeit lässt Roy keine Ruhe, sodass er kurzerhand nach Amsterdam reist und in einem tagelangen Marsch durch die niederländische Hauptstadt das fragliche Haus sucht und schließlich – fast zufällig und kurz vor dem Aufgeben – findet. Er rüttelt an der Tür, sie ist nur angelehnt, er betritt das Haus.
Was dann folgt, ist oberflächlich gesehen eine klassische Kriminalgeschichte. Roy wird Zeuge eines brutalen Mordes im Obergeschoss. Das Haus gehört den Geschwistern Willem und Lia van Dongen, beides Anwälte, die sich in einem ihrer jüngeren Fälle wohl mächtige Feinde gemacht haben. Als Roy das Zimmer betritt, kann er Willem nicht mehr retten, aber in einer traumwandlerischen Bewegung vereitelt er den Mord an Lia, die daraufhin die Auftragsmörder ausschalten kann. Nun liegen drei Leichen im Zimmer und es stehen sich Roy und Lia gegenüber, zwei Menschen, die sich vorher noch nie begegnet, nun aber, durch diesen unfassbaren Akt der Gewalt, auf ewig vereint sind.
Hiernach ist die Geschichte natürlich noch lange nicht an ihrem Ende angelangt, denn was wäre das Buch ohne das für Steinfest typische surreale Element? Der Autor schafft es auch auf der relativ kurzen Erzähldistanz von etwas über hundert Seiten, dem Text seinen ganz individuellen Touch zu geben, indem er das Schicksal von Roy und Lia aus dem Kriminal- in eine Art Zeitreiseplot überführt, bei dem das Foto vom Anfang der Novelle einer Prophezeiung gleichkommt … doch mehr sei an dieser Stelle nicht verraten.
Bei aller Liebe zur erzählerischen Spielerei achtet Steinfest dennoch penibel darauf, die Regeln zu berücksichtigen, die beim Schreiben einer Novelle zu beachten sind. Die unerhörte Begebenheit liegt klar auf der Hand, der Konflikt zwischen Chaos und Ordnung bestimmt große Teile des Geschehens und auch ein leitmotivischer Gegenstand – in der Literaturwissenschaft auch unter dem unschönen Begriff Dingsymbol bekannt – ist vorhanden. AMSTERDAMER NOVELLE ist also nicht nur inhaltlich reizvoll, sondern auch literarisch sauber durchkomponiert – ein weiteres Beispiel steinfestscher Kunstfertigkeit.
Der Autor ist in diesem Jahr einer der sechs Autoren und Autorinnen, die im Rahmen der LiteraTour Nord ihre Bücher vorstellen. Ich freue mich schon sehr auf die Lesung in Rostock und hoffe, dass dieser miese kleine Corona-Virus der großartigen Veranstaltung nicht – wie letztes Jahr – wieder einen Strich durch die Rechnung macht…
AMSTERDAMER NOVELLE erschien beim Piper-Verlag, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.