Klaus Cäsar Zehrer | DAS GENIE

D 2017 | 650 Seiten
Diogenes
ISBN: 978-3-257-06998-3

Das erste, was Boris Sidis tat, nachdem er amerikanischen Boden betreten hatte, war, seinen beiden Reisebegleitern die Freundschaft zu kündigen. (Seite 11)

INHALT: Neuengland zum Ende des 19. Jahrhunderts. Der russische Einwanderer Boris Sidis, ein hochintelligenter Pedant, hat Großes vor: Er will die gängingen Erziehungsmethoden so reformieren, dass bei den zukünftigen Generationen ein erhebliches Plus an Intellekt zu verzeichenen sein wird. Dazu hat er eine eigene Technik entwickelt, bei der die Kinder gleich nach der Geburt in Logik und Mengenlehre zu unterrichten sind – in klaren Sätzen, ohne Dutzi-Dutzi und La-Le-Lu. Wie auf Kommando wird sein erster Sohn William James Sidis geboren, bei dem Boris seine Lernmethoden sofort anwendet. Und siehe da – William ist übermäßig intelligent, beherrscht als Knabe schon ein Dutzend Sprachen (erfindet mit Vendergood sogar selbst eine), doziert als Elfjähriger vor einer Gruppe Professoren über die Vierte Dimension und geht als jüngster Harvard-Student in die Geschichte des Landes ein.

Dem Jungen stünden alle Türen weit offen, könnte man denken, doch was William an Intelligenz zu viel hat, gleicht er mit sozialer Inkompetenz wieder aus. Einem Menschen, der statt einer Kindheit nur ein frühes Studium erlebt hat, fällt es unter Gleichaltrigen schwer, Anschluss zu finden. Williams einziger Verbündeter bleibt sein Vater, der ihn dank seines Einflusses beim Lehrpersonal in kürzester Zeit durch Grund- und Hochschule drückt. Doch spätestens in Harvard sind die Unterschiede zwischen William und den restlichen Stundenten – geistig wie körperlich – so eklatant, dass er recht schnell zum Außenseiter wird, vom Wunderkind zur Kuriosität. Auch sein Versuch, sich als Professor Autorität zu verschaffen, endet in einer Katastrophe.

Angewidert vom ordinären Charakter der Jugend im Besonderen und der Dummheit der Menschen im Allgemeinen, zieht sich William aus der Öffentlichkeit zurück und verfasst für sich und seine Zukunft eine Art Gesetzestext, eine Liste mit einem Gros an Regeln und Prinzipien, deren Folgeleistung in seinen Augen der Garant für ein perfektes Leben sei. Doch so sehr er sich auch von ihr abwendet, die Menschheit ist noch nicht fertig mit William James Sidis, und spätestens mit dem Greueltaten des Ersten Weltkrieges verliert er vollends den Glauben an die Welt. Er schließt sich, seinen Prinzipien getreu, einer pazifistisch-sozialistischen Vereinigung an und gerät in die Mühlen der amerikanischen Justiz, die in diesen Zeiten für Kriegsgegner nur wenig übrig haben.

FORM: Klaus Cäsar Zehrers (*1969) Debüt ist eine klassische Romanbiographie, mit der er gleich zwei Leben beleuchtet, deren Prominenz hierzulande bis vor Kurzem eher im Dunkeln lag. Bis Sohn William auftaucht, ist es nämlich das Leben Vater Boris‘, das genau unter die Lupe genommen wird. (Ich bin – wie so oft – ohne großes Vorwissen an das Buch herangegangen und dachte lange Zeit, der Vater wäre das titelgebende Genie.)

Die Zeit zwischen Boris‘ Ankunft in Amerika und der Geburt seines Sohnes bildet im Roman den ersten von drei Teilen. Stilistisch orientiert sich Zehrer hier an klassischen Romanciers wie etwas Charles Dickens, was ganz gut zu beschriebener Zeit und Person passt. Boris Sidis wirkt mit seinem Starrsinn, seiner Cholerik und offenen Abneigung gegenüber allem Profanen wie ein ewig meckernder Scrooge. Auch mischt Zehrer hier eine gehörige Portion sarkastischen Humors zwischen die Zeilen, was dem Text etwas die Schärfe nimmt und Vater Boris eher zum Sympathen macht. Auch der zweite Teil, die Kindheit und Jugend Williams – damals von allen noch liebevoll Billy genannt – ist geprägt von humoristischen Szenen, die sich zwar schmunzelnd weglesen lassen, in ihrer Summe aber zu oberflächlich bleiben. Für eine solch tragische Figur, die William James Sidis in der Historie ohne Zweifel einnimmt, war mir der Roman bis hierhin zu seicht.

Erst im dritten Teil, der die komplette zweite Hälfte des Romans einnimmt, ändert sich der Ton, wird sehr viel ernster und philosophischer, entwickelt sich praktisch parallel zum Titelhelden. Ich meine sogar, den Punkt gefunden zu haben, an dem der Bruch im Schreibstil vonstattengeht: Es gibt da diese Szene zum Ende des zweiten Teils in der ein Reporter den noch jungen William fragt, ob er ihn denn mit Billy ansprechen dürfe und dieser darauf erwidert: »Auf keinen Fall«. An dieser Stelle habe ich gespürt, dass ich mich von Billy verabschieden müsse und dass ab jetzt ein anderer Wind wehe. Dieser dritte Teil weckt den ganzen Roman aus seiner Leichtigkeit (und den Leser aus seinem angenehmen Halbschlaf) und macht ihn zu einem grandiosen Psychogramm über einen klugen Kopf, der in Gegenwart von Weltkriegen, Ausbeutung und Geldgier den Glauben in die Menschheit verliert.

NEBENBEI: Zehrer? Klaus Cäsar? Den Namen hatte ich doch schonmal irgendwo gehört … Richtig! Vor ein paar Jahren geisterte doch mal dieses blaue Tier durch die Kinderzimmer, das mit seinen riesigen Haufen ganze Vulkane zum Erlöschen bringen kann – der Kackofant! Als ich mich über Zehrer etwas näher informieren wollte, stieß ich relativ schnell auf dieses skurrile Kinderbuch und konnte mich erinnern, dass es in meinem Freundeskreis eher die Eltern belustigt als deren Kinder unterhalten hatte. Ich fand’s damals extrem witzig und habe mich sehr gefreut, mal wieder was von dem kleinen Scheißvieh gehört zu haben. Doch zurück zum Thema…

FAZIT: Klaus Cäsar Zehrer ist mit DAS GENIE eine lesenswerte Biografie gelungen, die uns nicht nur die Leben zweier äußerst interessanter Persönlichkeiten näher bringt, sondern ganz nebenbei auch noch unterhaltsamen Geschichtsunterricht liefert. Die anfänglichen Schwierigkeiten (die oben bemängelte Seichtigkeit) will ich Zehrer nicht in Rechnung stellen, dafür entschädigt die zweite Romanhälfte mehr als ausreichend.
Fünf Sterne.


Die Jule in ihrer Leseecke war ebenfalls ganz aus dem Häuschen.

Ich danke dem Diogenes-Verlag für das Rezensionsexemplar. Alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier.

8 Gedanken zu “Klaus Cäsar Zehrer | DAS GENIE

  1. Ich fand den Roman auch in der ersten Hälfte schon ganz großartig und war weit entfernt von jeglichem Halbschlaf. Für mich ist „Das Genie“ mein persönliches Buch des Jahres und ich werde nicht müde, damit hausieren zu gehen. Ich habe sogar dem Buchhändler meines Vertrauens kürzlich den „Befehl“ erteilt, es zu lesen. 🙂

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    • Ich wünsche dem Roman auch viele Leser und hoffe, Deinem Buchhändler gefällt es. Mir persönlich fehlte der ersten Hälfte rückblickend einfach die spätere Ernsthaftigkeit; unterhaltsam ist das Ganze natürlich dennoch. Nichts für ungut – die Geschmäcker sind verschieden.
      Beste Grüße von der Ostsee! Bookster HRO

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  2. So ein Zufall! Gerade habe ich beim Deutschlandfunk ein Interview mit dem Autor gehört, das meine Neugier geweckt hat und schon finde ich diese Rezension, die mir einen wirklich guten Eindruck von dem Buch vermittelt. Danke dafür! Das ist was für die Wunschliste.

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    • Stimmt, das hatte ich kurz vor Abschluss meiner Lektüre auch mitbekommen. Brasks Roman erschien für den deutschen Markt bereits ein halbes Jahr eher, da kam Zehrer bestimmt etwas ins Schwitzen.
      Viel Spaß mit dem Genie und beste Grüße! Bookster HRO

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