ARG 2019 | 252 Seiten
OT: »Kentukis«
Aus dem Spanischen von Marianne Gareis
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42966-2
Als erstes zeigten sie ihre Titten.
(Seite 7)
Noch so ein Tech-Spielzeug, auf das die Menschheit nicht gewartet hat, das sich aber millionenfach verkauft, weil es hochgradig abhängig macht: Kentukis – kleine, süße Plüschtiere, ausgestattet mit einer Webcam, die per Zufall irgendwo auf der Welt zwei völlig fremde Menschen miteinander verbindet. Das Konzept ist so einfach wie genial: Du kannst wählen zwischen Herr und Wesen.
Willst du der Herr sein, kaufst du eines der niedlichen Tiere – Panda, Kaninchen, Eule, usw. –, nimmst es mit nach Hause und machst mit ihm, was du willst. Vielleicht brauchst du einen Gesprächspartner. Oder einen Katzenersatz, weil du auf Tierhaare allergisch bist. Oder vielleicht einfach jemanden, der bei dir ist, wenn du einschläfst.
Willst du das Wesen sein, kaufst du dir eine SIM-Karte und ein Software-Paket. Dir wird willkürlich irgendein Kentuki auf der Welt zugewiesen, den du dann steuern kannst. Der Kentuki ist stumm; das Wesen kann den Herren sehen und hören, aber nicht mit ihm reden. Die Verbindung Herr und Wesen ist einmalig, wird sie abgebrochen, kann sie nicht wiederhergestellt werden. Die SIM-Karte und das Plüschtier wandern dann auf den Müll.
Was hier ein bisschen nach Big Brother meets Tamagotchi meets Black Mirror klingt, ist der neue Roman HUNDERT AUGEN der argentinischen Autorin Samantha Schweblin (*1978), die einfallsreich beschreibt, auf wieviele verschiedene Arten man fortschrittliche – und im Grunde gut gemeinte – Technik missbrauchen kann. Denn natürlich bleibt es mit den putzigen Bärchen und Häschen nicht beim freudigen Miteinander. Viele Herren lassen ihren Frust an den Kentukis aus, misshandeln und quälen sie, ohne zu wissen, ob nicht vielleicht ein Kind am anderen Ende mit vor Schreck geweiteten Augen vor seinem Laptop sitzt. Es hat sich sogar recht schnell eine Amateur-Porno-Szene gebildet, wo mit Dildos behangene Kaninchen… aber das gehört jetzt hier nicht her.
Auch von der Wesen-Seite droht jederzeit Gefahr. Da werden die gutmütigen Herren hemmungslos ausspioniert und mit kompromittierendem Video-Material erpresst. Und nicht zu vergessen, dass die Möglichkeit, in fremde Kinderzimmer zu schauen, ein Eldorado für Pädophile ist. Mal ganz abgesehen von den heftigen Verletzungen der Privatsphäre…
Rund ein Dutzend Kentuki-Geschichten erzählt Schweblin. Manche sind nur wenige Seiten lang, andere teilt sie in viele Kapitel und verstreut sie über das ganze Buch. Bei den längeren Handlungssträngen achtet sie sehr auf das Tempo, beginnt stets harmlos, drückt dann ordentlich aufs Gaspedal, um die Karre am Ende dann so richtig ins Chaos zu lenken. Dabei erzählt sie aber nicht nur von den Schattenseiten, es gibt auch anrührende Geschichten. Wie die der beiden Kentukis, die bei einem Geschwisterpaar im Haushalt leben und sich ineinander verlieben. Oder Grigor aus Zagreb, dessen Kentuki in Brasilien bei einer Erkundungstour ein entführtes Mädchen findet. Oder Marvin, der in Guatemala lebt und einen Kentuki in Honningsvåg am Nordkap steuert, allerdings nur in einem Schaufenster eines Elektronikladens, von Staubsaugern umgeben. Dort wird er von einer Kentuki-Befreiungsarmee aus der Gefangenschaft in die Wildnis gesetzt.
Durch den Fortschritt und die Technik wird die Welt zwar immer kleiner, aber auch immer unübersichtlicher und künstlicher. Das ist keine Neuigkeit, aber ein Fakt, den die Autorin in ihrem Buch eindrucksvoll in Szene setzt. Ich kann mit meinem Cousin in Vancouver von Angesicht zu Angesicht und ohne Zeitverlust skypen. Ich kann mich über das aktuelle Wetter in Tasmanien informieren. Ich habe sogar mit wenigen Klicks ein Bild des Elektronikladens gemacht, in dem Marvins Kentuki festsaß, inklusive Staubsaugern…

Es ist gut und schön, dass das alles möglich ist, beeindruckend und ein bisschen wie Zauberei. Aber manchmal frage ich mich, ob das alles überhaupt sein muss, ob wir das wirklich alles brauchen. Ich würde lieber selbst in Vancouver sein, in Tasmanien im Regen stehen oder am Nordkap ans Schaufenster hauchen und ein Herz auf die Scheibe malen. Technik ist – mal abgesehen von den Gefahren durch Missbrauch – wichtig, wird aber nie die eigenen Empfindungen ersetzen können. Samantha Schweblin zeigt in HUNDERT AUGEN wohin unsere schöne neue Welt steuert, wenn sich alle ohne Scheu fragwürdige Hightech-Produkte ins Haus holen und die Möglichkeiten nicht reglementiert werden. Dabei spielt sie verschiedene Szenarien durch, ohne dabei in plumpen Spannungselementen zu versacken. Jede Autorin kleineren Formats hätte daraus einen dystopischen Endzeitthriller gemacht. So phantastisch das alles klingt, Schweblin bleibt realistisch, was ich ihr hoch anrechne. Ein sehr lesenswerter Roman, der ruhig noch etwas länger hätte sein können.
HUNDERT AUGEN erschien im Suhrkamp Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Die Übersetzung lieferte Marianne Gareis. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Ich bin beim flüchtigen Überfliegen der Rezension hängen geblieben und habe mich dann erneut beginnend festgelesen. Ich finde, das Buch klingt sehr interessant und inhaltlich auch diskussionswürdig. Allein der Missbrauchsaspekt lässt mich gerade noch zurückschrecken. Ich nehme das Buch mal mit auf meine Liste. Danke für die Empfehlung!
Liebe Grüße
Mona
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Gern! Viel Spaß beim Lesen!
LG Stefan
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