USA 1999 | 384 Seiten
OT: »Motherless Brooklyn«
Übersetzt von Michael Zöllner
Tropen
ISBN: 978-3-608-50389-0
Kontext ist das A und O.
(Seite 7)
MOTHERLESS BROOKLYN, mit dem Jonathan Lethem 1999 der internationale Durchbruch gelang, wurde mir empfohlen, allerdings nicht als Buch-, sondern als Filmtipp. Da ich aber ein großer Verfechter des Mottos »Erst das Buch, dann der Film« bin, musste erstmal der Roman her.
Hauptfigur und Ich-Erzähler des Buches ist Lionel Essrog, ein Kleinganove und Handlanger des etwas größeren Kleinganoven Frank Minna, der in Brooklyn ein dubioses Transportunternehmen leitet. Für Lionel und seine Kollegen ist Minna so etwas wie ein Ersatzvater, denn von ihm wurden sie vor vielen Jahren aus einem Waisenhaus geholt. Seitdem arbeiten sie für ihn und nennen sich die Minna-Men.
Eigentlich sind die Aufträge, die Minna ihnen gibt, sowohl anspruchs- als auch risikolos: Kisten von A nach B transportieren – sie stellen keine Fragen, Minna würde sie sowieso nicht beantworten. Aber an irgendeinem Punkt in der Vergangenheit muss sich Minna mit den falschen Leuten angelegt haben, denn eines unheilvollen Tages wird er in ein Hinterhalt gelockt und erstochen. Lionel nimmt nun als Hobby-Detektiv die Spur auf, um die Verantwortlichen dieser grausamen Tat zu entlarven. Er spricht mit möglichen Zeugen, schleicht herum und steckt seine Nase in alle möglichen Angelegenheiten.
Sein Problem – und die Triebfeder des ganzen Romans –: Er leidet am Tourette-Syndrom. Immer, wenn sein Gehirn vor lauter Anspannung zu platzen droht – was bei ihm quasi ein Dauerzustand ist –, schreit er eine Salve wilder Worte aus, zuckt, muss alles berühren, drücken, kneifen oder küssen. Das heißt, heimlich irgendwo rumstöbern oder Leuten mit dem nötigen Nachdruck Informationen aus dem Kreuz leiern, ist für Lionel nicht so einfach. Dass er trotz aller Schwierigkeiten nicht aufgibt, den Tod Minnas aufzuklären, zeigt, wie wichtig ihm dieser Mann gewesen sein muss.
Hatte ich schonmal erwähnt, dass ich nur äußerst ungern Krimis lese? Ich mag diese festen Strukturen nicht, und dass am Ende immer irgendwas aufgeklärt, abgeschlossen oder aufgelöst werden muss. Selten bleiben in diesem Genre irgendwelche Fragen offen. Für meinen Geschmack ist das so weit weg vom Leben, dass es mich nicht interessiert. Wenn allein schon die Worte Kommissar oder »Der xte Fall für Soundso« auf dem Buchumschlag stehen, bin ich raus.
Auch MOTHERLESS BROOKLYN hat all diese Krimi-Elemente, und ich war zwischenzeitlich echt genervt von diesem Aufklärungsdrang. Zusätzlich aber versorgt Jonathan Lethem (*1964) seine Leserschaft mit der gelungenen Beschreibung einer Krankheit über die jahrelang gespottet wurde. Dabei nähert sich Lethem der Diagnose nicht sachlich-trocken, sondern auf sehr persönliche, fast poetische Art mit einem gehörigen Schuss Humor. Er macht sich aber keinesfalls über Tourette lustig, im Gegenteil: er fördert das Verständnis. Allein die ersten paar Seiten haben mir sehr viel über diese Krankheit beigebracht – was da genau passiert und wie ich mir das als Außenstehender annährend vorstellen kann. Ich denke, das ist der große Gewinn des Buches – von der bloßen Geschichte mal abgesehen, die sich zwar gut wegliest, aber zum Ende hin in zu gewollter Skurrilität versandet.
Nun hat sich zwanzig Jahre nach Veröffentlichung des Romans kein Geringerer als Edward Norton an die Verfilmung gewagt. Spätestens nach dem Kino-Meilenstein FIGHT CLUB zählt Norton zu meinen Hollywood-Lieblingen, ich war also sofort hellhörig und habe mir den Film gleich nach der Lektüre angesehen. Und was soll ich sagen… Es kommt ja wirklich selten vor, dass eine Literaturverfilmung besser ist als ihre Vorlage, aber diesmal ist genau das der Fall. Norton – Regie, Drehbuch und Hauptrolle! – versetzt die Story aus den dreckigen Neunzigern in die stilvollen Fünfziger und nimmt ihr die oben genannte Skurrilität. (Statt gegen einen asiatischen Meeresfrüchtekonzern kämpft Lionel jetzt gegen einen gnadenlosen Immobilienhai; dadurch wird die Geschichte komplexer, ernsthafter und vor allem glaubwürdiger.) Und auch hier wird sich nicht über Tourette amüsiert. Norton, der nicht zum ersten Mal einen Menschen mit Behinderung spielt, gibt seinem Lionel jederzeit die nötige Tiefe und Würde. Respekt ist das Zauberwort, sowohl im Film als auch Roman.
Empfehlen kann ich beides, den Film aber fand ich besser.
MOTHERLESS BROOKLYN erschien im Tropen Verlag. Mittlerweile ist auch eine Taschenbuchausgabe erhältlich. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Äußerst ungern Krimis lesen? Da hat einer einfach noch nicht die richtigen Autoren in der Hand gehabt. 😉
Lethem ist klasse, wenngleich ich „Motherless Brooklyn“ selbst noch nicht gelesen habe. Die alte Goldmann-Ausgabe wartet immer noch im Bücherregal. Gestern habe ich durch Zufall den Trailer zur Verfilmung gesehen und mir dann gesagt: Wird Zeit, die Lektüre mal nachzuholen.
Sehr schöne Rezension übrigens!
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Dankeschön! Gib mir Tipps! Gib mir einen Krimi, der ohne diese typischen Aufklärungen auskommt. Das erinnert mich alles immer an Die drei ??? Reine Unterhaltung. Ich will das überhaupt nicht schlechtreden, aber es ist einfach nicht mein Ideal an Literatur.
Beste Grüße von der Ostsee! Bookster HRO
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Hm, das ist denke ich auch (immer noch) das größte Problem der Kriminalliteratur, dass sie immer auf eine Ermittlung in einem Mordfall reduziert wird. Ich behaupte steif und fest, kein anderes Genre ist so vielfältig. (Und ich lese durch die Bank eigentlich querbeet und habe da keinerlei Favoriten – es gibt keine guten und schlechten Genres, nur gute und schlechte Literatur) Und kein anderes bietet so viele Möglichkeiten, die gesellschaftlichen Verwerfungen herauszuarbeiten oder einen tieferen Einblick in das Gefüge des jeweiligen Landes zu geben. Natürlich muss man aber, um schlichter Fastfood-Unterhaltung zu entgehen, dabei einen großen Bogen um die sogenannten Bestseller machen.
Ich könnte Dir mit Sicherheit mehrere Dutzend Autoren nennen, die eben nicht nach diesem Schema F schreiben bzw. die Grenzen zu moderner Unterhaltungsliteratur verschwimmen lassen. Ich belasse es aber mal bei ein paar und stelle – wenn das für Dich in Ordnung ist – mal die Links zu meinen Rezensionen ein.
– Peter Dexter
https://crimealleyblog.wordpress.com/2017/03/14/wuerde-mit-schmutzigem-gesicht/
– Mechtild Borrmann (!!!)
https://crimealleyblog.wordpress.com/2016/05/27/der-laerm-des-schweigens/
– William Boyd
https://crimealleyblog.wordpress.com/2017/11/15/ein-haesslicher-kleiner-krieg/
– Jim Nisbet
https://crimealleyblog.wordpress.com/2019/11/06/in-den-strassen-von-san-francisco/
– Linus Reichlin
https://crimealleyblog.wordpress.com/2017/11/03/in-der-ruhe-liegt-die-kraft/
Die von mir rezensierten Titel sind dabei nur exemplarisch, haben doch alle Autoren mehrere Werke geschrieben, die sich wohltuend von dem abheben, was gemeinhin der Leser (leider) als „Krimi“ bezeichnet. Wie gesagt, es gäbe da noch so viel mehr, u.a. auch Klassiker wie die Bücher von Eric Ambler oder Patricia Highsmith. Aber vllt. sagt Dir ja von den obigen Titel schon etwas zu bzw. weckt Dein Interesse.
Beste Grüße zurück aus dem Spessart!
Stefan
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Ich werfe mal ganz schnell ein Buch in die Runde, von dem ich glaube, es könnte passen. Ich lese ja gerne diese Krimis, die sich schlecht einordnen lassen, weil sie nicht nur eine Ermittlung abarbeiten.
Der untenstehende Link führt zu meiner Besprechung von „Hard Revolution“ von George Pelecanos, ein Buch, dass mit seinem geschichtlichen Hintergrund gerade wieder sehr aktuell ist. Mir hat sehr gut gefallen, wie Pelecanos den Zeitgeist eingefangen hat und die innere Sicht seiner Figuren darstellt.
Grüße in die Runde!
https://leseseiten.wordpress.com/2017/10/22/george-pelecanos-hard-revolution/
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