John Dos Passos | USA-TRILOGIE

USA 1930-36 | 1650 Seiten
bestehend aus den Romanen
DER 42. BREITENGRAD | 1919 | DAS GROẞE GELD
OT: »The 42nd Parallel« | »Nineteen Nineteen« | »The Big Money«
Neu übersetzt von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl
Rowohlt
ISBN: 978-3-498-09560-4

Der junge Mann bewegt sich rasch und allein durch die Menge, die sich in den nächtlichen Straßen verläuft […]

(Seite 13)

Seit meiner letzten Rezension sind ein paar Wochen ins Land gezogen. Der Grund hierfür hat mehr als 1.600 Seiten, wiegt gut zweieinhalb Pfund und handelt von den Geschicken einer Weltmacht zwischen Industrialisierung und Wirtschaftskrise Anfang des 20. Jahrhunderts – ein fetter Brocken also. Seitdem ich mich für amerikanische Literatur interessiere – und das ist nicht erst seit gestern –, stand die USA-TRILOGIE von John Dos Passos (1896-1970) auf meiner Muss-ich-dringend-mal-lesen-Liste ziemlich weit oben und lieferte sich mit William Gaddis‘ FÄLSCHUNG DER WELT und Margaret Mitchells VOM WINDE VERWEHT jahrelang einen erbitterten Kampf um die Tabellenführung. Und dann kam im Frühling die Ankündigung des Rowohlt Verlages, Dos Passos‘ Opus Magnum habe eine Neuübersetzung erfahren, die am 16. Juni erscheinen wird – ausgerechnet an meinem Geburtstag! Na gut, dann war die Sache ja klar, welchen Klassiker ich bald von der Liste werde streichen können.

Ein physisches Rezensionsexemplar gab es vorab nicht – dafür ist die Auflage wahrscheinlich zu klein und die Produktionskosten zu hoch –, dafür war der Verlag aber so gnädig, mir eine pdf-Datei zu schicken. Eigentlich lese ich nur äußerst ungern auf Displays – ich brauche das Rascheln von Papier beim Umblättern und das Gewicht des Buches in den Händen –, aber die Vorteile des digitalen Lesens lernt man bei einem Buch dieser Ausmaße recht schnell zu schätzen. Ich mache mir bei umfangreichen Romanen immer Notizen, weil ich viele Sachen schnell mal vergesse, schreibe also während der Lektüre fleißig mit. Bei der pdf-Datei dagegen habe ich wichtige Stellen einfach markiert und Lesezeichen gesetzt, um schneller zwischen einzelnen Textstellen hin- und herzuspringen. Ich konnte also erstmal lesen, lesen, lesen und habe später dann meine Notizen gemacht. (Fast achtzig Seiten sind da übrigens zusammengekommen.) Das Buch habe ich mir kurz nach Erscheinen dann trotzdem noch gekauft – auch wenn ich schon halb durch war –, quasi als Geburtstagsgeschenk an mich selbst.


Auch wenn das Buch aus den drei Einzelromanen DER 42. BREITENGRAD, 1919 und DAS GROẞE GELD besteht, kann und soll es als ein Gesamtwerk gelesen und verstanden werden. Auch die Erstveröffentlichung von 1938 erfolgte in einem Band, erst später kamen Einzelausgaben auf den Markt. Bei einem vorsichtigen Blick in das Inhaltsverzeichnis fallen als Erstes die unterschiedlichen Schriftarten der Kapitel auf. Es gibt bei der USA-TRILOGIE vier Erzählebenen, die sich stilistisch radikal unterscheiden. Die wichtigste Ebene – die auch gut vier Fünftel des gesamten Textes ausmacht – sind die fiktiven Lebensgeschichten der zwölf Hauptfiguren. Dos Passos griff tief in die sozialen Schichten seiner Zeit und nahm sich von überall ein Paradebeispiel mit, um seinen Roman zu bevölkern. Arm, reich, gebildet, dumm, konservativ, sozialistisch, Mann, Frau, Jude, Christ – ganz egal, jeder bekam seine Chance. So entstand ein reicher und bunter Querschnitt durch ein Land, das zwischen 1900 und 1930 mehr als einmal gefährlich nahe daran war zu zerbrechen.

Dos Passos schrieb jeder seiner Figuren eine Vita auf den Leib, gab sie seiner Leserschaft allerdings nicht als einzelne abgeschlossene Kapitel, sondern als Stückwerk zur Lektüre. Die Lebensgeschichten sind also kleingehackt, gut durchmischt und zeitlich geordnet, was den Nachteil hat, dass manche Figuren erst nach hunderten Seiten wieder auftauchen. Charley Anderson zum Beispiel – ein Flieger-Ass, der es mit seiner Flugzeugfirma an die Spitze der US-Unternehmen schafft, der aber wegen seines dandyhaften Lebensstils direkt in die Katastrophe steuert – ist eine der wichtigsten Personen im dritten Teil, hat seinen ersten Auftritt aber schon in Teil Eins, dazwischen hört man sechshundert Seiten kaum etwas von ihm. Bei Richard Savage – einem Soldaten, der mit stolzer Brust in den Weltkrieg zieht und dort sowohl den Glauben an Gott, als auch den Lebensmut verliert – ist es ähnlich: in Teil Zwei die ganz dicke Nummer, dann plötzlich fünfhundert Seiten Stille. Ich will aber nicht verschweigen, dass sich die meisten Lebensläufe irgendwann miteinander kreuzen, sodass in fast jedem der Kapitel irgendeine Figur auftaucht, die auch eine eigene Geschichte hat. Es gibt auch Nebenfiguren ohne eigene Kapitel, die sich immer wieder ins Geschehen schummeln, sodass auch hier ein umfassender Lebensbericht entsteht.

Um die Übersicht in diesem großen Ensemble nicht vollends zu verlieren, habe ich beschlossen, die Kapitel nicht chronologisch zu lesen, sondern nach Figuren sortiert, angefangen bei Fainy McCreary, der als Wanderarbeiter vergeblich sein Glück sucht bis er sich in Mexiko den Zapatisten anschließt, bis hin zu Margo Dowling, die als Schauspielerin von allen geliebt wird, im Privaten aber eine Enttäuschung nach der anderen durchstehen muss. Geschrieben sind all diese Kapitel in einer überraschend leicht zu lesenden Prosa, die an die Texte von John Steinbeck erinnert: auktioral erzählt, schnörkellos, handlungsorientiert. Die Charaktere zeugen jedoch sämtlichst von einer gewissen Tiefe, sie haben alle ihre Fehler, sind verletzlich und suchen ihr Glück in einer neuen, aufregenden und wirren Welt. Manchen gelingt das Kunststück, manchen nicht – wie das Leben nun mal so ist.

Stilistisch interessanter gestalten sich die drei anderen Ebenen des Buches, die in über hundert kurzen Kapiteln über das ganze Buch verteilt sind. Da gibt es zum Einen die sogenannte Wochenschau, die ein Querlesen durch die Zeitungen imitiert. Schlagzeilen aus allen Rubriken werden wild durcheinander geworfen, Artikel angelesen und bei Desinteresse wieder abgebrochen. Da in den Haupterzählungen nur selten eine Jahresangabe gemacht wird, kann man die Wochenschau als gute Hilfestellung nehmen um herauszufinden, in welcher Zeit man sich gerade befindet. Bei meiner figurenorientierten Leseweise habe ich mir die Wochenschau allerdings größtenteils gespart und nur hin und wieder mal reingeschnuppert.

Eine weitere Ebene beinhaltet knapp dreißig Biographien wichtiger Vertreter der amerikanischen Geschichte. In kurzen, poetischen, fast märchenhaften Miniaturen werden uns Menschen wie Theodor Roosevelt, Thomas Edison oder Henry Ford vorgestellt, Berühmtheiten also, die in jenen Jahren Rang und Namen hatten. Dass sich darunter nur eine einzige Frau findet, ist der männerdominanten Zeit geschuldet, in der das Buch geschrieben wurde, obwohl ich sagen kann, dass das Frauenbild in Dos Passos‘ Werk kein schlechtes ist. Verglichen mit anderen Romanen jener Zeit, in denen Frauen oft entweder als Huren oder als Heimchen dargestellt wurden, kommen die Frauen bei Dos Passos selbstbewusst und stark daher und führen die Männer auch gern mal an der Nase herum. Ohne der USA-TRILOGIE eine Vorreiterstellung in Sachen Feminismus zuschreiben zu wollen – das wäre zu viel des Guten –, ist sie in dieser Beziehung der Zeit dennoch voraus.

Die letzte Erzählebene ist ein etwa hundert Seiten währender Bewusstseinsstrom, der in einundfünfzig Teilstücken zwischen die Kapitel gestreut ist. Diese kurzen Texte werden Das Auge der Kamera genannt und sind stark autobiografisch gefärbt. Bestehend aus scheinbar wahllos zusammengeschusterten Erinnerungsfetzen führt uns Dos Passos durch seine Kindheit und Jugend, seine Studienzeit in Harvard, seine Reisen und seinen Kriegseinsatz in Westeuropa. Während Dos Passos in den groß angelegten fiktiven Kapiteln keinerlei Partei ergreift – dort wird nur beobachtet –, lernen wir hier seine eigene Einstellung zur erzählten Zeit kennen, was dem Roman eine zusätzliche, sehr persönliche Note verleiht. Die Auge-der-Kamera-Kapitel habe ich ganz zum Schluss in einem Rutsch gelesen, was mir ganz gut gefiel. Ich denke, die Intensität eines Stream of Consciousness kann durch häppchenweise Lektüre nur geschwächt werden, daher meine Empfehlung: Lieber als Ganzes genießen.


So. Jetzt liegt das Ding wie ein dunkelgrauer Zeigelstein hier vor mir und am Ende solcher Mammutlektüren stellen sich immer ein paar Fragen: Hat sich der ganze Aufwand denn nun gelohnt? Ist dieser Klassiker überhaupt noch relevant? Und was kann uns dieses Buch mehr als achtzig Jahre nach Erscheinen über das heutige Amerika sagen?

Natürlich lohnt sich die Lektüre. Die USA-TRILOGIE ist Weltliteratur und John Dos Passos gehört zu Amerika wie James Joyce zu Irland und Alfred Döblin zu Deutschland. Was ich bei Dos Passos gelernt habe, ist, dass die USA schon seit ewigen Zeiten auf wackligen Beinen steht, sich aber dennoch stets als unantastbar und ohne Fehl und Tadel präsentiert. Die Geschichte dieses so grandiosen wie seltsamen Landes besteht seit der Gründung aus Reibung. Es gab in fast zweihundertfünfzig Jahren kaum eine Dekade ohne soziale Unruhen oder politische Verfehlungen, und die Führer der sogenannten Freien Welt waren entweder Heilige oder Pappnasen. Das Land besteht seit jeher aus Extremen und Gegensätzen, das gehört quasi zu seiner Natur, es ist sein Kern und Antrieb. Das war zu Dos Passos‘ Zeiten so, das ist heute noch so, und das wird sich wohl auch nie ändern. Wenn man so will, ist es das, was die USA-TRILOGIE sein soll: Das ewig geltende Psychogramm eines beispiellos mächtigen, aber zutiefst zerrütteten Landes. Unbedingt lesen!


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Die USA-TRILOGIE erschien als Neuübersetzung im Rowohlt Verlag, bei dem ich mich herzlichst für die Unterstützung bedanke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet. Die Übersetzung lieferten mit Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl zwei absolute Meister ihres Faches, die dem Text ein umfang- und hilfreiches Glossar anhängten.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

12 Gedanken zu “John Dos Passos | USA-TRILOGIE

  1. „Seitdem ich mich für amerikanische Literatur interessiere – und das ist nicht erst seit gestern –, stand die USA-TRILOGIE von John Dos Passos (1896-1970) auf meiner Muss-ich-dringend-mal-lesen-Liste ziemlich weit oben…“

    Diese Liste kenne ich und die „USA-Trilogie“ steht hier in einer alten dreibändigen Ausgabe und wartet schon lange, genauso wie Gaddis, Bellow, Brodkey, Sinclair…. Für diese umfangreichen Bücher wähle ich immer meinen langen Urlaub aus, um mich besser auf den Inhalt konzentrieren zu können und vorallem zügig voran zu kommen. Da habe ich die Qual der Wahl!

    Danke für Deine schöne Besprechung, sie stützt das Vorhaben der Lektüre. Die Neuübersetzung finde ich natürlich reizvoll, gerade wenn so renommierte Leute das machen. Das ist dann eine Überlegung wert, sich diese Ausgabe zu gönnen.

    Sommerliche Grüße!

    P.S. Meine diesjährige monumentale Urlaubslektüre „gewann“übrigens ein Japaner.

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  2. Die Trilogie hab ich relativ bald nach Manhattan Transfer gelesen, ich schätze so vor 15 Jahren. Das Ganze wirkt wie eine Fleißarbeit. Zu lang die Einzelkapitel, um als Motive in einer literarischen Symphonie zu funktionieren, wie es in Manhattan Transfer gelingt, zu schematisch erzählt, um am Stück wirklich interessant zu sein. Manhattan Transfer ist ein kompositorisches Meisterwerk, ein „erwachsener“ Ulysses (vgl.: https://soerenheim.wordpress.com/2018/01/29/der-erwachsene-ulysses/). Ich lese oder höre es (in der leider gekürzten Version) fast jährlich. Obwohl die USA-Trilogie nicht schlecht ist hab ich bis heute keinen Grund gefunden, sie nochmal aufzuschlagen.

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    • Das ist schade, aber fünfzehn Jahre sind lang, vielleicht wird’s mal wieder Zeit? Ich finde die Trilogie besser als nur „nicht schlecht“ und werde sie sicherlich irgendwann in einem ruhigen Monat nochmal lesen. Dann aber – wie vom Autor gedacht – von vorn nach hinten. MANHATTAN TRANSFER liegt auch schon lange bereit, mal sehen, wann ich dazu komme. LG Bookster

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      • Von mir aus ist sie auch „gut“. Und sicher besser als viele andere „gute“ Bücher. Aber da es mehrere hundert exzellente Bücher gibt, die man auch noch zum fünften oder zehnten mal lesen kann, darunter definitiv Manhattan Transfer, hat USA bei mir derzeit recht wenig Chancen…

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    • @soerenheim – oh naja, ich sehe das ja auch eher wie Bookster HRO, andere Zeiten, andere Sicht auf die Dinge und Fleißarbeit würde ich die USA Trilogie niemals nennen wollen. Wer so ein Werk hinlegt, hat mehr als Fleiß bewiesen. Ich habe bisher auch nur die alte Übersetzung gelesen, und freue mich nach dieser Besprechung extrem auf die neue. Manhattan Transfer ist eines meiner all-time-favs, aber ich denke die USA Trilogie hat auch den Anspruch, eben die Enwicklung der Jahre nach 1925, als MT rauskam, nachzuzeichnen. Das ist Gesellschaftskritik in (damals) modernster Kunstform, genial verzahnt über die Collagen von Fiktion und Zeitungsausschnitten.

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  3. Wow, danke für die tolle Besprechung – ich habe die Trilogie irgendwann vor Jahren im Modernen Antiquariat erstanden, weil nicht mehr lieferbar .. gelesen habe ich sie auch – unnd freue mich jetzt auf die Neuüberetzung. Was für ein Meisterwerk. Da reicht auch einmal lesen nicht aus. Coole Idee, das nach Lebensläufen zu lesen … LG und ein schönes WoE, Bri

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