Clemens J. Setz | DIE FREQUENZEN

A 2009 | 720 Seiten
Residenz Verlag
ISBN: 978-3-7017-1515-2

Gerade als er eine passende Formulierung für seine Begrüßung gefunden hatte, wurde der junge Mann am Zugfenster von einem Tunnel überrascht, dessen unvermittelt einsetzende Finsternis ihm wie zur Verhöhnung sein bleiches Gesicht in der zitternden Fensterscheibe vorhielt. (Seite 9)

Es gibt zwei Möglichkeiten, eine Rezension zu diesem bemerkenswerten Roman zu schreiben: Entweder man macht’s ausführlich oder kompakt. Ich hab’s zuerst mit der ausführlichen Variante versucht und kam verdammt nochmal nicht zu einem Ende. Die Verbindungen der einzelnen Charaktere untereinander sind so verwinkelt, dass ich kaum eine Information geben kann, ohne sie mit zwei weiteren zu erklären. Dabei ist die Figurenparade, mit der uns Clemens J. Setz hier bekannt macht, gar nicht so lang. Zwei, drei Hauptpersonen, dazu je eine Handvoll Nebenfiguren – das war’s. Selbst geografisch bleibt die Geschichte größtenteils zentriert auf eine namenlose Stadt in Österreich, die man aber dank einiger Hinweise leicht als Graz entlarven kann. Ich wähle jetzt also die kompakte Variante, auch wenn damit die Komplexität des Plots nur unzureichend erkennbar wird.

INHALT: Da ist zunächst Alexander Kerfuchs, der sich von seiner Freundin Lydia trennen will, um eine Beziehung mit Valerie einzugehen. Valerie ist Therapeutin für Stressbewältigung. Patienten in ihren Gruppensitzungen sind unter anderen Gabi, die von ihrem Mann Wolfgang sitzen gelassen wurde, und Walter Zmal, der allerdings ein von Valerie engagierter Schauspieler ist, der die Patienten mit gezielten Aussagen zu größerer Offenheit animieren soll. Als Valerie an Walter Kritik übt, weil er seine Rolle als Patient nicht authentisch genug spielt, erschlägt er sie eines Nachts auf offener Straße mit einer Eisenstange und flieht aus der Stadt zu seiner Familie. Aber er wurde heimlich gefilmt von Gerald, einem Jungen, der bei Alexander im Haus wohnt…

Viel weiter komme ich nicht, ohne mich in dem Geflecht aus Querverbindungen zu verheddern. Alexanders Vater konnte Walters Vater schon damals nicht leiden, der mal der Arbeitgeber von Valeries Vater war, der jetzt ein Pflegefall ist und von Mitsuko versorgt wird, die mal die Musiklehrerin von Walter war; Gabis Mann Wolfgang wohnte mal mit Alex‘ Vater in einer WG, als dieser seinerseits Frau und Kind sitzen ließ; und obendrein streunt noch Valeries Hund durch die Stadt und hinterlässt weitere Stolperfallen … es ist hoffnungslos.

FORM: Die knapp achtzig Kapitel unterscheiden sich stilistisch erheblich. Neben klassisch Erzähltem gibt es auch reine Monolog- und Dialog-Szenen, Traumsequenzen, Zeitungs- und Lexikonartikel und auch aus dem Delirium eines Komapatienten wird berichtet. Fast alle Charaktere bekommen ihre eigenen Kapitel, selbst der Hund erzählt von seinen Abenteuern. Die Szenen sind nicht immer chronologisch geordnet (zum Beispiel beginnt der Roman mit der Flucht Walters), folgen aber im Großen und Ganzen der Entwicklung des Ich-Erzählers Alexander. Diese Struktur hat mich stark an Wallace‘ UNENDLICHER SPASS erinnert, was als Kompliment gedacht ist.

Sehr auffällig ist Setz‘ Gespür für unkonventionelle Metaphern und Bilder, die, auch wenn sie manchmal unfreiwillig komisch erscheinen, fast immer ins Schwarze treffen. Da hebt ein T-Shirt schon mal sein schläfriges Lid (Seite 309), oder ein lauter Rap-Song fährt mit heruntergelassenen Seitenfenstern vorbei (Seite 684), und man denkt: Was? Ist das sein Ernst? Aber irgendwie ist dann doch klar, was er meint. Ich kann verstehen, dass sich manche Leser nicht gern auf solche Kapriolen einlassen, Setz musste gerade dafür auch herbe Kritik einstecken, mir hat dieser Stil aber nach kurzer Eingewöhnung sehr zugesagt. Ähnlich verspielte Ideen kennt man von Saša Stanišic, was ebenfalls als Kompliment gedacht ist.

FAZIT: Kaum zu glauben, aber DIE FREQUENZEN ist mein erster Roman von Clemens J. Setz, diesem verträumten Wunderkind mit dem Küblböck-Faktor, von dem ich schon so viel gehört habe, den alle lieben und alle hassen. Daher war mir klar, worauf ich mich einlasse, und las den Text mit einiger Vorsicht und nicht ohne mir Notizen zu machen. Zum bloßen Zeitvertreib ist der Roman nicht gedacht; er verlangt die volle Aufmerksamkeit, belohnt den Leser dann aber auch mit dem wohligen Gefühl, Zeuge von etwas Großen geworden zu sein – fünf Sterne!

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