Tom McCarthy | SATIN ISLAND

GB 2015 | 221 Seiten
OT: »Satin Island«
übersetzt von Thomas Melle
Deutsche Verlags-Anstalt
ISBN: 978-3-421-04718-2

In Turin wird das berühmte Grabtuch aufbewahrt, das einen Abdruck der Leiche Christi nach der Kreuzigung zeigt: auf dem Rücken liegend, die Hände über dem Geschlecht verschränkt, die Augen geschlossen, der Kopf dornengekrönt. (Seite 9)

INHALT: Was genau machen eigentlich Wirtschaftsanthropologen? Sie versuchen, das wirtschaftliche Verhalten einer bestimmten (Ziel-)Gruppe zu auszuloten, meistens im Auftrag eines Unternehmens, um deren Absatz zu steigern. Genau so einer ist U., der für die Consultingfirma Koob-Sassen auf der ganzen Welt unterwegs ist, um neue Märkte zu ergründen. Sein Boss Peyman hat kürzlich einen Mega-Deal mit einem großen Konzern an Land gezogen, ein nie dagewesenes Projekt über das alle sprechen, aber niemand so recht weiß, worum es eigentlich geht. Im Zuge dieses Projekts wird U. von Peyman beauftragt den Großen Bericht zu schreiben, einen universalen Text, der unser komplettes Zeitalter umfassen soll. Wie er das bewerkstelligt, Form und Ausmaß des Berichts, ist U. überlassen; der Text findet schon seine Form – was immer das heißen soll.

U. merkt schon nach kurzer Zeit, dass er mit dieser Aufgabe völlig überfordert ist. Wie soll man einen Bericht über ALLES schreiben, einen Text der ein ganzes Zeitalter umfasst? Und wozu überhaupt? Und was ist das eigentlich für ein Projekt, für das Peyman diesen Bericht braucht?

U. beginnt, sich in Kleinigkeiten festzubeißen. Der tödliche Unfall eines Fallschirmspringers beispielsweise erregt seine Aufmerksamtkeit. Tagelang trägt er alles zusammen, was über Unfälle mit Fallschirmen zu finden ist. Ebenso sammelt er alle Information zu Ölkatastrophen, ordnet sie, baut Statistiken auf, vernetzt alles miteinander, kommt aber nicht weiter. Es erscheint alles so sinnlos. Als Peyman erste Ergebnisse sehen will, muss U. sich eingestehen, dass er praktisch nichts vorweisen kann. Für ein Symposium saugt er sich einen Vortrag quasi aus den Fingern und wird von allen Gästen frenetisch gefeiert – wofür auch immer…

FORM: Tom McCarthy (*1969) hat mit SATIN ISLAND einen kafkaesken Roman über einen obskuren Berufszweig und einen extremen Fall von Prokrastination vorgelegt. Sprachlich auf höchstem Niveau schreibt er seinem Helden eine Leidensgeschichte der ganz anderen Art auf den Leib. Monate lang recherchiert der arme U., ohne richtig zu wissen wofür und wohin das alles überhaupt führen soll. Dabei wird nichts wirklich erklärt und der Leser ist genauso ahnungslos wie U. selbst.

(apropos Sprechende Namen: Das Initial verrät ja schon, dass Leser und Ich-Erzähler viel gemeinsam haben. Im englischen Original heißt es zu Beginn: »Me? Call me U.« Und der Boss Peyman ist der, der die Spesen bezahlt. Sein Vorname wird nicht genannt, aber ich tippe auf Bill.)

McCarthys Erzählton würde ich irgendwo zwischen Donald Antrim und Thomas Pynchon verorten, also eher bildungssprachlich, aber mit deutlich weniger Humor. Auch wenn es hin und wieder skurril wird, ein paar Lacher hätten dem Buch nicht geschadet, schließlich ist es kein todernstes Thema, dessen sich McCarthy hier annimmt. SATIN ISLAND wirkt nach dem letzten Kapitel eher wie ein kleines Zauberkunststück – hübsch anzuschauen aber schnell verflogen.

FAZIT: Ein überaus clever komponierter Roman, der viel Raum für Interpretationen lässt. Vier Sterne.


Ich danke der Deutschen Verlags-Anstalt für das Rezensionsexemplar. Alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier.

4 Gedanken zu “Tom McCarthy | SATIN ISLAND

  1. Ach, da erinnere ich mich doch gerade, es auch gelesen zu haben. Mir hat es ehrlicherweise nicht so gefallen. Ich pendelte bei der Lektüre zwischen wunderbar unterhaltenden Sequenzen, und Abschnitten, in denen ich gar nichts verstanden habe. Das war mir dann persönlich zu wenig, Die Einordnung „zwischen Antrim und Pynchon“ bringt es aber auf den Punkt, da kann ich mich nur anschließen. Von McCarthy hat mir sein Roman „K“ dagegen richtig gut gefallen. Vielleicht als weitere Lektüreempfehlung. Beste Grüße und Danke für die Besprechung!

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    • Stimmt, es gibt furchtbar irritierende Szenen. Und dieses ewige Themenstochern für den Großen Bericht ist ermüdend, da man ja früh ahnt, dass alles im Nichts enden muss. Die letzten Kapitel aber (Madisons Geschichte und der Besuch auf Staten Island) haben den Roman für mich gerettet.
      Auf K hatte ich bei Erscheinen richtig Lust, traute mich aber lange nicht ran, sodass es irgendwann in Vergessenheit geriet. Danke also für die Erinnerung! Vielleicht wage ich mich ja nochmal ran…
      Grüße von der Ostsee! Bookster

      Gefällt 1 Person

  2. Das Buch klingt ein wenig nach einem ähnlichen Ansatz wie Ulrich Pelzer es in Das bessere Leben versucht. Nur, dass er sehr überbordend erzählt. Das Ganze sage ich aber nur unter Vorbehalt und mit gefährlichem Halbwissen. 🙂

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