Nicole Krauss | WALDES DUNKEL

USA 2017 | 380 Seiten
OT: »Forest Dark«
Aus dem Englischen von Grete Osterwald
Rowohlt Verlag
ISBN: 978-3-498-03576-1

Zur Zeit seines Verschwindens hatte Epstein seit drei Monaten in Tel Aviv gelebt. (Seite 13)

Gleich zwei unterschiedliche Geschichten sind es, die Nicole Krauss in ihrem neuen Roman erzählt. Doch auch wenn sich die beiden Protagonisten im Buch nicht treffen, haben sie doch ähnliche Intentionen, verfolgen die gleichen Ziele, ihre Leben nämlich nach schweren Niederlagen in neue Richtungen zu lenken.

Da ist zum einen Jules Epstein, ein alternder Millionär aus New York, der nach der Diagnose Krebs, die er vor allen anderen geheim hält, in seine alte Heimat Israel zurückkehrt, um dort – zum Leidwesen seiner Erben und Anwälte – sein üppiges Vermögen für wohltätige Zwecke zu verschleudern. Einer Intuition folgend fasst er den Plan, in Gedenken an seine Eltern aus hunderttausenden von Setzlingen einen Wald in die Wüste Negev zu pflanzen. Doch kaum in Israel angekommen, macht er die Bekanntschaft mit einem Rabbiner, der felsenfest davon überzeugt ist, Epstein gehöre zu den letzten lebenden Nachkommen Davids, des biblischen Königs von Juda und Israel, und stehe somit in direkter Verwandschaft mit Jesus. Auch in der Wüste wird Epstein von seinem Plan abgelenkt, denn dort wird gerade ein Film gedreht. Das Thema: David gegen Goliath.

In der zweiten Handlungsebene folgen wir einer jungen Autorin – ihr Name wird nur einmal am Rande erwähnt: Nicole –, die ebenfalls von New York nach Israel unterwegs ist. Sie allerdings flieht nicht vor dem krankheitsbedingten Ende, sondern vor ihrer Ehe, die sich in den letzten Jahren zu einem nicht enden wollenden Kampf entwickelt hat. Ihr Ziel ist das berühmte Hilton Hotel in Tel Aviv, direkt am Ufer des Mittelmeeres, wo auch Epstein untergebracht ist. In diesem Hotel, in dem sie während ihrer Kindheit jedes Jahr im Urlaub war, sucht sie nach Inspirationen für ihr neues Buch. Da kommt es ihr nicht ungelegen, dass sie von dem ehemaligen Literaturprofessor Friedman angesprochen wird, der sie auf eine interessante Theorie über ihr Jugendidol Franz Kafka aufmerksam macht. Dieser soll, so Friedman, nach seinem offiziellen Tod 1924 noch mehr als dreißig Jahre putzmunter weitergelebt haben – und zwar hier in Israel. Friedman verschafft der Schriftstellerin Zugang zu einem ominösen Koffer mit den letzten geheimen Manuskripten Kafkas mit der Bitte um Sichtung, Vollendung und Veröffentlichung. Doch ehe sie mit der Arbeit beginnen kann, wird sie krank, verliert erst den Verstand, dann das Bewusstsein und findet sich in einer abrissreifen Hütte in der Wüste Negev wieder.


Nicole Krauss (*1974), der im deutschprachigen Raum 2006 mit ihrem Familiendrama DIE GESCHICHTE EINER LIEBE der Durchbruch gelang, bleibt mit ihrem jüngsten Roman ihren Themen treu. Die Identität der heutigen Juden in der Diaspora und der Umgang mit dem religiösen und gesellschaftlichen Erbe – das sind die Triebfedern ihrer Geschichten. Allerdings hat sich Krauss seit ihren ersten Erfolgen enorm weiterentwickelt. Was die gebürtige New Yorkerin in WALDES DUNKEL alles zwischen die Zeilen schreibt, ist so vielschichtig und tiefschürfend, da ist es kein Wunder, dass sich Größen wie Philip Roth sehr beeindruckt zeigen.

In wechselnden Kapiteln folgen wir Epstein und der Autorin auf ihrer Suche nach einem Sinn, einer Aufgabe im Leben. Während die Kapitel um Epstein eher humorvoll gezeichnet sind – Jules Epstein wirkt mitunter leicht trottelig und gerät von einer Katastrophe in die nächste –, geht es bei der Schriftstellerin in aller Ernsthaftigkeit immer ums Ganze. Anders als bei Epstein, aber passend zur Figur, wählt Krauss hier die Ich-Form und schreibt sich, so scheint es, eine in langen Jahren angestaute Wut und Verzweiflung von Seele, die einer Nabelschau gleichkommt und in einem wirren Delirium gipfelt … geradezu kafkaesk – selten ist dieses überbeanspruchte Adjektiv passender.

Zu den ganz großen Momenten in WALDES DUNKEL zählt die fiktive (Nach-)Lebensgeschichte Kafkas, die im Buch dermaßen glaubwürdig geschildert und belegt wird, dass ich mich parallel erstmal belesen musste, ob da was dran ist. Auch der Schluss des Romans, der mit einem äußerst cleveren Twist aufwartet, der dem Buch nochmal ein letztes Funkeln verleiht, ist ein absolutes Highlight. Ohne diesen Trick, so befürchte ich, wäre die ganze Rätselhaftigkeit, die ganze Bedrohlichkeit, die sich über die fast vierhundert Seiten aufbaut, einfach verpufft. Am Ende lässt sich sagen: Eine fordernde, aber lohnende Lektüre.


Krauss_WaldesWALDES DUNKEL ist im Rowohlt Verlag erschienen, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Alle weiteren Informationen findet Ihr hier. Auch bei letteratura wurde das Buch schon gelesen; zur Rezension geht’s hierlang. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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