Charlie Kaufman | AMEISIG

USA 2020 | 863 Seiten
OT: »Antkind«
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
Carl Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-26833-3

Es landet mit einem Wumms, aus dem Nichts kommend, von außerhalb der Zeit, außerhalb jeder Ordnung, herausgeschleudert aus der Zukunft oder vielleicht der Vergangenheit, aber es landet hier, an dieser Stelle, in diesem Augenblick, der jeder Augenblick sein könnte, was wohl bedeutet, so nimmst du an, dass es gar kein Augenblick ist.

Seite (9)

Von den rund fünfhundert Spielfilmen, die jedes Jahr in Hollywood produziert werden, kann man getrost zwei Drittel unter der Rubrik Leichte Unterhaltung abheften. Verliebte Teenager überwinden soziale Barrieren, um zueinander zu finden; bunt gekleidete Superhelden kämpfen gegen intergalaktische Bösewichte; computer-animierte Tiere mit menschlichen Emotionen singen von Liebe und Freundschaft … Das ist nicht weiter schlimm, denn was ist Hollywood anderes als eine riesige Unterhaltungsindustrie? Im verbleibenden Drittel jedoch finden sich immer wieder glänzende Perlen mit enormem Kultpotential. Ich bin der Meinung, ob ein Film das Zeug dazu hat, die Zeit zu überdauern und in Jahrzehnten noch gern gesehen zu werden, steht und fällt mit dem Drehbuch. Eine alte Weisheit besagt: Aus einem guten Drehbuch kann man einen schlechten Film machen – andersherum funktioniert das nicht.

Seit der Film BEING JOHN MALKOVICH im Kino lief – Ach, wie gern wäre ich doch mal wieder in einem Kino! –, bin ich ein großer Bewunderer von Drehbuchschreiber Charlie Kaufman. Ich zähle ihn neben Paul Thomas Anderson, Christopher Nolan und den Coen-Brüdern zu den wenigen wirklich kreativen Autoren Hollywoods, inhaliere jeden seiner Filme dutzendfach und lese auch die Original-Drehbücher dazu. (Ich habe sogar ein paar alte Newmarket Shooting Script-Ausgaben im Schrank stehen.) Filme wie VERGISS MEIN NICHT!, ADAPTION oder ANOMALISA gehören meines Erachtens in jede gut sortierte Privat-Videothek, und wer SYNECDOCHE, NEW YORK noch nicht gesehen hat, sollte das schleunigst nachholen.

Quelle: Wikipedia

Nun hat Charlie Kaufman mit Anfang sechzig seinen ersten Roman geschrieben. Als ich Anfang des Jahres in der Hanser-Verlagsvorschau davon erfuhr, bekam ich schlagartig Schnappatmung. Ich hatte mich noch gar nicht ganz erholt von Kaufmans neuem Film I’M THINKING OF ENDING THINGS (verfügbar auf Netflix), und jetzt das? Ein Roman meines Drehbuch-Gottes? Mehr als achthundert Seiten Prosa aus der Feder dieses Hollywood-Genies? Muss ich haben! Also bettelte ich den Verlag um ein Vorab-Exemplar an – Ein großes Dankeschön an die Hanser-Pressestelle! – und vergrub mich für knapp drei Wochen in die vertrackte Gedankenwelt von Charlie Kaufman – Was. Für. Ein. Ritt!


Die Story hier einigermaßen umfassend wiederzugeben, ist ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, deswegen beschränke ich mich darauf, nur ein wenig an der Oberfläche zu kratzen. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist Balaam Rosenberger Rosenberg, ein Filmkritiker aus New York, der den Auftrag erhält, in einer Kleinstadt in Florida einen verschollenen Filmklassiker zu begutachten. Dabei macht er Bekanntschaft mit Ingo Cutbirth, einem uralten Mann, der ihm eröffnet, er habe auch einen Film, den zu sehen es sich lohne. Neunzig Jahre lang habe Cutbirth ununterbrochen daran gearbeitet und man bräuchte – Schlaf-, Ess- und Pullerpausen miteinberechnet – drei Monate, um den Film in seiner Gänze zu sehen. Er habe ihn noch nie jemandem gezeigt, Rosenberg wäre also der Erste … aber auch der Letzte, denn danach würde Cutbirth sein Lebenswerk zerstören. Rosenberg ist ganz Ohr und wittert seine Chance, mit einer wissenschaftlichen Abhandlung über diesen Film ganz groß rauszukommen. Er willigt ein, folgt Cutbirth in dessen Wohnung und begibt sich in die vierteljährige Vorführung.

Ein paar Wochen nach Filmstart stirbt Cutbirth an Altersschwäche, liegt plötzlich einfach hinter dem ratternden Projektor auf dem Fußboden. Rosenberg schaut sich den Film diszipliniert bis zum Ende an und beschließt, den Streifen – entgegen Cutbirths Zerstörungsplänen – mit nach New York zu nehmen, um ihn dort zu studieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er mietet einen Lastwagen, lädt hunderte Filmrollen auf und macht sich auf den Weg nach Norden. Doch auf halbem Weg geht der Truck in Flammen auf, brennt vollständig aus und Cutbirths Vermächtnis schwebt in einem gigantischen Funkenflug in den Himmel von North Carolina. Bei dem panischen Versuch, noch irgendetwas zu retten, stürzt sich Rosenberg in die Flammen, verliert das Bewusstsein, den Großteil von Haut und Haaren und die Erinnerungen an die letzten Monate.

Zurück in New York – nach Koma, Operationen und Genesungszeit – sucht Rosenberg den Hypgnotiseur [sic!] Barassini auf, der ihm dabei helfen soll, die verlorenen Erinnerungen an den Film aus den versengten Hirnwindungen zu kratzen. Das gelingt auch erstaunlich gut: In einer Art Trance findet sich Rosenberg im Film selbst wieder, begibt sich dort zurück nach Florida, lernt erneut Cutbirth kennen und sieht sich dessen Film noch einmal an. Cutbirth stirbt, Rosenberg belädt den Laster, der geht in Flammen auf, Rosenberg verliert die Erinnerung. Noch immer in Trance sucht er Barassini auf, der ihn in Trance versetzt und nach Florida zurückschickt…


Ich merke gerade, dass das jetzt wirklich stark vereinfacht ist; ganz so simpel funktioniert das bei Charlie Kaufman natürlich nicht. Die Story schlägt im Verlauf des Buches extrem viele Haken und verschwurbelt sich in dermaßen in Zeit- und Gedächtnisebenen, dass sich jeder Christopher Nolan-Plot wie ein Kindergeburtstag ausnimmt. Und was dem trotteligen Rosenberg zwischendurch alles widerfährt, ist an Skurrilität und Einfallsreichtum kaum zu überbieten. Das beginnt schon bei der Figur selbst: Rosenberg ist eine riesige Grabbelbox, vollgefüllt mit Macken, Neurosen und Vorurteilen. In seinem krankhaften Wunsch, nirgends anzuecken – er gendert alles und reibt es jedem penetrant unter die Nase; er ist mit einer Afroamerikanerin zusammen, nur um zu zeigen, wie wenig rassistisch er ist; er nennt sich B., um seine Geschlechtszugehörigkeit zu verschleiern, die sein Ansehen bei den Frauen vielleicht belasten könnte –, tritt er von einem Fettnäpfchen ins nächste. Hinzu kommt, dass er fürchterlich überheblich und von sich eingenommen ist. Er ist allwissend und Experte in jeglicher Hinsicht, hat dutzende Wissenschaften im Nebenfach studiert und ist überzeugt, dass ihm niemand in beruflichen oder privaten Dingen das Wasser reichen kann. All diese Charakterzüge zusammengenommen ergeben eine denkbar schlechte Mischung und machen aus Rosenberg ein unsympathisches, armseliges Würstchen. (Doch so viel sei hier verraten: Die Streifzüge durch die Erinnerungen an Cutbirths Film verändern ihn auf positive Weise.)

Stilistisch bedient sich Charlie Kaufman munter und mit großer Kelle im Pool der postmodernen Textspielereien. Er macht eine Ebene nach der anderen auf, lässt Rosenberg in nicht enden wollenden Monologen über unsinnigste Themen vor sich hinlabern und macht auch vor metafiktionalen Tricks nicht halt. (Rosenberg äußert sich zu fast allen Filmen von Kaufman auf sadistisch-negative Art, aber auch andere Hollywood-Größen bekommen ihr Fett weg.) Was mich besonders überrascht hat, ist der Humor, den Kaufman in AMEISIG an den Tag legt. Ich kenne Kaufmans Humor lang und gut genug, um zu wissen, dass er selten mit der Brechstange die Lacher aus seinem Publikum stemmt. Sein Witz ist von der feinen Art, liegt in den Dialogen verborgen oder versteckt sich in den Szenen. Wenn man bei seinen Filmen laut loslacht, dann meist kopfschüttelnd und mit einem What-the-fuck!? im Anschluss. In diesem Roman ist das anders: Komische Szenen am laufenden Band; oft sarkastisch und selten politisch korrekt, aber nie billig; kaum ein Absatz ohne Pointe, Wortspiel oder Seitenhieb; Running-Gags noch und nöcher – ein achthundertsechzigseitiges Dauerfeuer. (Ich musste echt so oft wiehern, wie schon lange nicht mehr bei einem Buch – als Berufspendler im ÖPNV ist das oft mit peinlichen Augenblicken verbunden.)

Bei all dem Humor, der ganzen Skurrilität und den schwindelerregenden Tiefen, in die Kaufman seine Leserschaft hinabzerrt, verliert man leicht die Orientierung und vergisst, um was es dem Autor eigentlich geht. Im Kern sind es genau die Themen, an denen sich Kaufman bereits seit zwanzig Jahren abrackert: die Angst vor der Einsamkeit, die Sehnsucht nach Liebe, und letztlich auch – natürlich! – die Angst vor dem Tod. Der Text besteht also sämtliche Prüfungen: Er ist witzig, er ist anspruchsvoll vertrackt und philosophisch tiefgründig. Zugegeben: AMEISIG kann kapitelweise auch zur kräftezehrenden Zumutung werden, löst beim Lesen aber eine unwiderstehliche Sogwirkung aus. Ist man nach zweihundert Seiten noch am Ball, liest man sich leicht in einen Rausch. Das letzte Viertel habe ich rasend schnell und wie im Wahn durchblättert, hochgradig angespannt und total begeistert, aber auch mit der Gewissheit, nicht mal die Hälfte von dem zu verstehen, was da vor sich geht. (In der x-ten Zeitschleife kämpfen tausende Donald-Trump-Klone gegen die Privatarmee einer Fast-Food-Kette um die Weltherrschaft … Geil! … Aber hä?) Das Buch schreit förmlich nach einem Re-Read, und dann noch einem, und gerne noch einem weiteren. Vielleicht mache ich mir dann Notizen zu jedem Kapitel, lege ein Faden durch das Labyrinth oder streue Brotkrumen hinter mich, das soll ja bekanntlich helfen.

Und was ist das nun alles? Große Kunst oder einfach nur abgefahrenes Zeug? Das sind ja immer die Fragen, die man sich bei jedem Projekt stellt, das Charlie Kaufmans Werkstatt verlässt. Nennt mich vorbelastet, schimpft mich einen Fan-Boy, ich komme nicht umhin zu verkünden: AMEISIG ist ein formvollendetes, zukunftsweisendes und leuchtend strahlendes Kunstwerk, das seinesgleichen sucht. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, es ist das Größte, was Kaufman je erschaffen hat, und es wird ihn überdauern, selbst wenn seine Filme längst in Vergessenheit geraten sind. Die amerikanische Literatur hat in jeder Dekade einen Überroman hervorgebracht, ein Buch, das inhaltlich und formal neue Wege geht, für die Ewigkeit gemacht ist und wie kein zweites für sein Jahrzehnt steht. Die Siebziger hatten DIE ENDEN DER PARABEL, die Neunziger UNENDLICHER SPASS, vor ein paar Jahren erschien LINCOLN IM BARDO und unsere noch so jungen Zwanziger nun haben AMEISIG. In jeder Hinsicht ein Meisterwerk.


AMEISIG – grandios übersetzt von Stephan Kleiner – erschien beim Carl Hanser Verlag, dem ich nochmals herzlich für das Rezensionsexemplar danken möchte. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

5 Gedanken zu “Charlie Kaufman | AMEISIG

  1. Ich war skeptisch, denn dies ist die erste Besprechung, bei der das Buch wirklich gut wegkommt. Auch ich bin Fan, seit ich einen Kaufman Film gesehen habe. Es freut mich, dass er deiner Meinung nach den Sprung ins ältere Genre gemacht, und nicht in den Bach gefallen ist. Werde mich wohl an die 800 Seiten machen, wenn ichs in den Fingern hab. Merci!

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    • Mach das, bin gespannt auf Dein Urteil. Hab ehrlich gesagt noch gar keine anderen Rezensionen gelesen, um ganz unvoreingenommen zu bleiben, werde die Tage aber mal lesen, was die Kritik so meint. Ich jedenfalls finde es grandios. LG

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