EU 2017 | 460 Seiten
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42758-3
Wer hat den Senf erfunden? Das ist kein guter Anfang für einen Roman. (Seite 11)
INHALT: Zum fünfzigsten Jahrestag der Gründung der Europäischen Kommission soll Fenia Xenopoulous, aufstrebende EU-Beamtin aus Zypern, einen Festakt organisieren. Ganz nebenbei soll mit dieser Jubileumsfeier auch das Image der Europäischen Behörden aufpoliert werden, das sich seit Jahren im Sinkflug befindet. Mit ihren Kollegen entwickelt sie die Idee, den ursprünglichen Sinn der Gründung am Jahrestag in den Mittelpunkt zu stellen. Der Grundgedanke entstand aus den Gräueln des Zweiten Weltkrieges, dem Holocaust, und dem Wunsch, dass sich so etwas niemals wiederholen dürfe. Es gibt wohl kaum einen Begriff, der mit den Schandtaten der Nazis so eng verknüpft ist wie Auschwitz, also versuchen Fenia und ihr Team alle noch lebenden ehemaligen KZ-Häftlinge aufzuspüren, was schwieriger ist, als zunächst angenommen.
Währenddessen hält sich auch Professor Alois Erhardt in Brüssel auf, ein alternder Volkswirtschaftler, der in der letzten Rede seiner langen Karriere den machtgeilen Jungspunden, die heute an den Hebeln sitzen, erklären will, woraus die Union eigentlich erwachsen ist, welche Chancen sie bietet und wohin die Reise führen kann. Eine Vorlesung mit mächtig Zündstoff, da Erhardt sie mit einem Vorschlag beendet, der einschlägt wie eine Bombe.
Auch David de Vriend wandelt durch Brüssel, allerdings mit letzten Kräften – er ist einer der letzten Auschwitz-Überlebenden. Als Junge sprang er vom Deportationszug und verlor seine ganze Familie in den Kammern. Ihm gelang die Flucht, doch wenige Jahre später wurde er verraten und kam letztlich auch ins Lager, wo ihm nur das Kriegsende vor dem sicheren Tod rettete. Für Fenia und ihr Jubilee Project wäre de Vriend ein wichtiger Zeuge, doch bevor sie ihn ausfindig machen kann, funkt ihr das Schicksal dazwischen.
FORM: Robert Menasses groß umjubelter Brüssel-Roman besticht vor allem durch seine scheinbare Leichtigkeit. Mit viel Witz und gutem Gespür für die Facetten seiner Figuren ackert sich Menasse durch die staubtrockene Unionslandschaft. Ich sage scheinbar, weil hinter dem überraschend locker wegzulesendem Text jede Menge Tiefsinn und Ideenreichtum versteckt sind, so dass DIE HAUPTSTADT sowohl als literarisches Denkmal für die EU, als auch als Streitschrift für die Gegner der europäischen Idee dienen kann.
Stilistisch zeigt sich Menasse verspielt und experimentierfreudig, ohne völlig auf die gängigen Regeln der Erzählkunst zu verzichten. Die ganz große Stärke des Autors liegt bei den Dialogen. Selten habe ich Romanfiguren so realistisch miteinander sprechen gehört (bzw. gelesen). Das macht viel aus: Es gibt den Charakteren unglaublich viel Tiefe und nimmt ihnen eventuelle Steifheiten. Eine Kunstfertigkeit, die ich bei vielen gegenwärtigen Autoren und Autorinnen – auch wenn ich sie ansonsten schätze – oft vermisse.
Die größte Leistung dieses Romans ist jedoch, dass Menasse die EU nicht als lebloses bürokratisches Monstrum darstellt, das sich hinter scharfen Gesetzen und engen Vorgaben versteckt, sondern als visionäre Institution, geführt von einem bunt zusammengewürfelten Haufen Menschen aus ganz Europa mit all ihren Stärken und Schwächen, Idealen und Ängsten – er gibt dem supranationalen Organ eine Seele.
FAZIT: Robert Menasse (*1954) ist seit dem Erschienen seines Romans und nicht zuletzt seit dem Gewinn des Deutschen Buchpreises 2017 in aller Munde und DIE HAUPTSTADT wird viel besprochen. Und natürlich – wie für ein politisches Buch üblich – polarisiert es auch, was man aber wie so oft als positive Eigenschaft zählen kann. In der Begründung der dbp-Jury steht, dass Menasse in DIE HAUPTSTADT den Anspruch verwirklicht, Zeitgenossenschaft literarisch so zu realisieren, »dass sich Zeitgenossen im Werk wiedererkennen und Nachgeborene diese Zeit besser verstehen werden«*. Ich schließe mich hiermit den Bewunderern an und vergebe feierlich fünf Sterne.
DIE HAUPTSTADT erschien beim Suhrkamp-Verlag; ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Du hast das Schwein vergesssen 🙂 Das Schwein, das durch Brussel rast, durch die Gedanken des österreichichen Schweinebauren, und das zum Spaltpilz der EU wird.
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Das habe ich bewusst weggelassen. Über das Schwein wurde in den zahlreichen Rezensionen schon so viel geschrieben, da wollte ich das nicht auch nochmal wiederkäuen.
Beste Grüße von der Ostsee! Bookster HRO
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Ich lese dieses Buch gerade, bin noch mittendrin; deshalb habe ich nur den letzten Absatz deiner Rezension gelesen und weil ich auch wissen wollte, wie viele Sterne du vergeben hast 🙂 . Bis jetzt gefällt mir der Roman auch sehr gut!
Gruß,
Frieda
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Ein tieftrauriges Buch, das meiner Meinung nach nicht viel mit der EU zu tun hat und dem ich eigentlich den östBp wünschte
https://literaturgefluester.wordpress.com/2017/10/01/die-hauptstadt/
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[…] David Wonschewski, auf Lillis Buchseite, bei Literatur im Fenster , auf Das graue Sofa , auf booksterHRO und im […]
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