Sandra Newman | JULIA

USA 2023 | 447 Seiten
OT: »Julia«
Aus dem Englischen von Karoline Hippe
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0156-3

Mit diesem Mann aus der Abteilung Archiv fing alles an, diesem knurrigen, grimmigen Typen, der immer so von oben herab wirkte mit seinem Altdenkgehabe und absolut keine Ahnung hatte, was auf ihn zukommen würde.

(Seite 9)

1984 zum Zweiten! Wie zu Beginn der Woche angekündigt, stelle ich nun den Roman JULIA von Sandra Newman vor, der den Orwell’schen Kosmos um eine äußerst interessante Dimension erweitert. Fast ein dreiviertel Jahrhundert nach der Veröffentlichung des Kultklassikers um die tragische Figur des Winston Smith im totalitären Überwachungsstaat Ozeanien erschien kürzlich die Geschichte aus der Sicht der weiblichen Hauptfigur Julia Dixon.

Der Roman JULIA ist weder Sequel noch Prequel zu 1984, es handelt sich eher um eine parallele Neuerzählung. Inhaltlich hält sich Sandra Newman an die Begebenheiten des Originals, zumindest was die Grundprämissen und die gemeinsamen Szenen mit Winston Smith angeht. Mit Unterstützung des Orwell Estate – den Rechteinhabern am Werk des Autors – durfte sie die Dialoge sogar eins zu eins übernehmen. Im Gegensatz zu dieser Linientreue tobt sich Newman bei der Beschreibung von Julias Lebenssituation richtig aus und führt die Geschichte ab der Trennung der beiden Figuren um noch weitere Handlungsstränge weiter.


Stilistisch unterscheidet sich JULIA immens vom Original. Wo 1984 düster und ernst ist, wirkt JULIA dagegen fast strahlend und voller ironischem Witz. Das liegt am Charakter der titelgebenden Figur. Julia ist auch im Original schon eine lebenbejahende Frau, die neben dem vom Schicksal gebeutelten Smith wie eine fröhliche Märchenfee daherkommt. Dabei hat auch sie eine finstere Vergangenheit und kein gutes Leben unter dem Hardline-Regime. Im Original wird das alles nur angerissen und nicht weiter verfolgt; Newman dagegen schenkt der Figur genau die Tiefe, die sie in all den Jahrzehnten nicht hatte. Denn obwohl Julia in 1984 neben Winston die wichtigste Protagonistin ist, war sie stets nur Beiwerk, ein Attribut, eine Projektionsfläche für die Hauptfigur.

Und genau hier geht Newman in die Vollen. Das Jahr 1984 liegt jetzt länger zurück als es bei Erscheinen des Romans noch Zukunftsmusik war, seitdem ist viel passiert, besonders in Sachen Feminismus. Wenn Julia also bei den Gesprächen mit Winston einschläft, passiert das nicht, weil sie überarbeitet ist, sondern weil sein Mansplaining sie langweilt – eine Szene, die zu Orwells Zeiten undenkbar gewesen wäre, heute dagegen geradezu verpflichtend ist. Auch andere Details, die wegen Orwells Wissensstand über die Jahrzehnte etwas Staub angesetzt haben, werden von Newman behutsam modernisiert, besonders was den heutigen Umgang mit Künstlicher Intelligenz angeht.


Im Gegensatz zur Graphic Novel von 1984, die man auch ohne Vorkenntnis lesen und verstehen kann, würde ich behaupten, bei JULIA geht es nicht ohne. Newman übernimmt die von Orwell vorgegebene Welt, erklärt sie aber nicht nochmal, das wäre auch unnötig gewesen. Sie setzt das Wissen um Begriffe wie Neusprech und Doppeldenk voraus, ein Anspruch, den sie von ihrem Publikum zu Recht erwarten kann.

Von Sandra Newman kannte ich bisher die Romane ICE CREAM STAR und HIMMEL, zwei Bücher, die ich sehr mochte und die Autorin für mich zu einer der interessantesten Stimmen ihrer Generation machte. Auch JULIA fügt sich nahtlos in diese Reihe ein – für mich persönlich ein großes Highlight in diesem Jahr.


JULIA erschien im Eichborn Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf das Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

2 Gedanken zu “Sandra Newman | JULIA

Hinterlasse einen Kommentar