Rainer Moritz | MATRATZENDESASTER

D 2019 | 186 Seiten
Reclam
ISBN: 978-3-15-020389-7

Vor der Praxis steht meist die Theorie, vor der Erfüllung die Neugier, die Sehnsucht, die Erwartung. (Seite 11)

Zu den schwierigsten Dingen, denen sich Autorinnen und Autoren regelmäßig stellen müssen – oder wollen –, gehört zweifellos das Schreiben über Sex. Es wird immer wieder versucht, es wird immer wieder gescheitert. Selbst renommierte Größen ihrer Zunft kommen beim Thema Liebesspiel oft ins Schlingern und bringen nur noch verkrampften Schund zu Papier. Nur in sehr seltenen Fällen gelingen solche Szenen, ohne unangenehm oder lächerlich zu wirken. Der überaus belesene Rainer Moritz (*1958) hat in seinem Büchlein MATRATZENDESASTER hunderte Textstellen zahlreicher Romane und Erzählungen zusammengetragen, in denen es von Peinlichkeiten und unfreiwilliger Komik nur so wimmelt.

Nach Spielarten geordnet – animalisch, botanisch, kulinarisch, eklig usw. – präsentiert, analysiert und bewertet Moritz eine literarische Entgleisung nach der anderen, gewohnt eloquent, thematisch versiert und sets mit einem Augenzwinkern. Es ist deutlich zu spüren, dass er manchen Textstellen mehr zugetan ist als anderen, dennoch lässt er allen Urhebern ihre Freiheit, schreiben zu dürfen, was sie wollen. Ob das weibliche Geschlecht nun eher einer chinesischen Morchel gleicht (Wolfgang Schömel in ZWEI TAGE, DREI NÄCHTE) oder einem zusammengeknüllten Oktopus (Clemens J. Setz in INDIGO) – Moritz empört sich nie und lässt den Autorinnen und Autoren ihren Spaß. Gelegentlich macht er sich über völlig absurde Beschreibungen lustig, nimmt ironisch gemeinte Sätze bewusst wörtlich und findet hier und da auch ein kritisches Wort zur Qualität eines ganzen Werkes. Dennoch ist der Grundton des Buches – auch Dank einiger eingestreuter Privatanekdoten – ein freundschaftlicher, und ich glaube, dass kaum jemand, der hier zitiert wird, Grund zum Ärger hat.

Ich muss zugeben, dass ich mich beim Lesen von Sexszenen auch zunehmend schwertue. Vor zwanzig Jahren war das anders, da hieß es noch: Je versauter, desto besser. Henry Miller, Philip Roth, John Updike – jedes Buch wurde gleich nach dem Kauf auf die deftigen Schweinereien durchforstet, für die die Herren so berühmt waren. Heute dagegen achte ich eher darauf, ob eine Szene stilistisch zum Buch und den Figuren passt, oder ob sie einfach nur provozieren will und mich unfreiwillig zum Voyeur macht. In den meisten Fällen kommt es zum Stilbruch, wenn zum Beispiel in einem eigentlich ruhigen und sinnlichen Roman plötzlich hart und dreckig drauflosgerammelt wird. Das ist, als ob beim SCHWANENSEE ein Besoffener gröhlend ins Scheinwerferlicht poltert und die Primaballerina vollkotzt – ich bezweifle, dass danach jemand aus dem Publikum klatschend aufsteht, »Bravo!« ruft und Rosen auf die Bühne wirft. Solche Szenen müssen halt passen und auch eine gewisse Relevanz für die Geschichte besitzen, sonst kann man sie auch gleich weglassen.

Wie auch immer… mit seiner kleinen Stellensuche hat Rainer Moritz ein interessantes Buch geschrieben, über eine große Kunst, die kaum jemand beherrscht. Mit ironisch-witzigem Erzählton – das beginnt schon bei der Widmung – zieht Moritz jeder Peinlichkeit den Stachel, so dass nicht nur entgeistert mit dem Kopf geschüttelt, sondern auch herzhaft gelacht werden kann.


978-3-15-020389-7MATRATZENDESASTER ist die erweiterte und aktualisierte Neuausgabe von WER HAT DEN SCHLECHTESTEN SEX? (Deutsche Verlags-Anstalt, 2015). Das Taschenbuch erschien bei Reclam; ein Klick aufs Cover führt zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen zu Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

4 Gedanken zu “Rainer Moritz | MATRATZENDESASTER

Hinterlasse einen Kommentar