Märchen-Trilogie | in Einzelbänden erschienen bei Fischer Klassik | bestehend aus:
DER GETEILTE VISCONTE
I 1952 | 95 Seiten
OT: »Il visconte dimezzato«
ISBN: 978-3-5969-0507-2
DER BARON AUF DEN BÄUMEN
I 1957 | 277 Seiten
»Il barone rampante«
ISBN: 978-3-5969-0441-9
DER RITTER, DEN ES NICHT GAB
I 1959 | 128 Seiten
»Il cavaliere inesistente«
ISBN: 978-3-5969-0528-7
VORAB: Eine Romanreihe, die mich schon seit Jahren gereizt hat, ist die Vorfahren-Trilogie Italo Calvinos (1923-1985). Diese drei Frühwerke in Calvinos Schaffen zählen zur allegorisch-phantastischen Literatur, die er wie kaum ein anderer beackerte und beherrschte. In jedem der Bücher lässt er einen fiktiven historischen Charakter ein unmögliches Leben leben, das jeweils zum Symbol unserer Wünsche und Gedanken wird.
DER GETEILTE VISCONTE
Es war ein Krieg gegen die Türken. Der Visconte, Medardo di Terralba, mein Onkel, ritt über die böhmische Ebene, um sich zum Lager der Christen zu begeben. (Seite 5)
INHALT: Jener Visconte, ein junger und unerfahrener Mann, wird auf dem Schlachtfeld von einer Kanone buchstäblich in Stücke gerissen – in zwei, um genau zu sein. Wie durch ein Wunder überlebt eine Hälfte und kehrt, exakt der Länge nach halbiert, nach Terralba auf Sardinien zurück um dort zu herrschen. Aber es ist die böse Hälfte, die überlebt hat. Seine Regentschaft gerät zur blutigen Tyrannei und sein Volk leidet sehr. Doch einige Zeit später taucht ein zweiter Halbierter auf. Die andere, die gute Hälfte Medardos hat ebenfalls überlebt und versucht, die Übeltaten seines anderen Ichs wettzumachen. Er stellt sich seinem Gegenstück und es kommt zum Duell.
DER BARON AUF DEN BÄUMEN
Es war der 15. Juni 1767, als Cosima Piovasco di Rondò, mein Bruder, zum letzten Male in unserer Mitte saß. Wir befanden uns im Speisesaal unserer Villa in Obrosa; die dichten Zweige der großen Steineiche des Parks umrahmten die Fenster. (Seite 5)
INHALT: Auf ebendiese Steineiche springt der junge Baron nach einem Streit mit seinen konservativen Eltern. Rebellisch und dickköpfig wie er ist, kommt er den ganzen Tag nicht mehr vom Baum herunter, und auch am nächsten nicht. Und auch die ganze nächste Woche, den nächsten Monat und das nächste Jahr nicht mehr. Er bleibt Zeit seines Lebens dort oben und führt ein Aussteigerleben in den Wäldern – nur eben nicht fernab aller Menschen, sondern direkt unter, oder besser gesagt: über ihnen.
Baron Cosimo entzieht sich somit seinen aristokratischen Verpflichtungen, ohne die Gesellschaft gänzlich aufzugeben. Im Gegenteil: Er führt ein reiches Leben mit allen Höhen und Tiefen, Erfolgen und Misserfolgen. Er bildet sich sich umfassend in Philosophie, Naturwissenschaft und Sprache. Er findet sowohl Freunde als auch Feinde, und sogar die Liebe seines Lebens. Selbst als Napoleon Bonaparte halb Europa in den Krieg treibt, kann Cosimo, von allen Mächten unabhängig, seinen Beitrag leisten.
Ich denke, ich verrate nicht zuviel, wenn ich sage, dass Cosimo selbst nach seinem Tod im Alter von 65 Jahren (für die damalige Zeit recht hoch) den Boden nicht berührt; dafür sorgt er mit letzter Kraft in einem der schönsten Abgänge der Literaturgeschichte.
DER RITTER, DEN ES NICHT GAB
Unter den roten Mauern von Paris war das Heer der Franken angetreten. Karl der Große sollte die Parade abnehmen. Gut drei Stunden standen die Paladine bereits da; es war heiß: ein etwas bedeckter, wolkiger Frühsommernachmittag; in den Rüstungen schmorte es wie in Kochtöpfen über langsamem Feuer. (Seite 5)
INHALT: Nur einen der Ritter in der Parade scheint die Hitze nicht zu stören: Agilulf (Emo Bertrandino derer von Guildiverne und der anderen von Korbentratz und Sura, Ritter von Selimpa Citerior und Fez – so sein ganzer Titel). Die Haltung: mustergültig; die Rüstung: blitzeblank; seine bloße Anwesenheit: respekteinflößend; das Gesamtpaket: Ta. Del. Los. Agilulf ist das Idealbild eines Soldaten und glänzender Stern im Heere des Kaisers. Er ist immer korrekt und treu, ein Meister in Strategie und Kampf, völlig humorlos und stets siegreich. Und wer meint, einen solchen kann es gar nicht geben … hat Recht: Es gibt ihn nicht, die Rüstung ist leer. Es ist das abstrakte Ideal, das die Rüstung führt.
Doch Agilulf – von den Damen verehrt, von den Herren bewundert – hat auch Feinde in den eigenen Reihen. Diesen jungen Engländer Torrismund zum Beispiel, der doch tatsächlich die Frechheit besitzt, seine Ritterehren anzuzweifeln. Das kann Agilulf nicht auf sich sitzen lassen, er, der Inbegriff von Disziplin und Tapferkeit, und begibt sich auf eine lange Reise durch die bis dahin bekannte Welt, auf der Suche nach sich selbst und seiner Herkunft.
FORM: Calvinos Stil ist poetisch und ahmt gekonnt den klassischen Tonfall alter Märchen nach, wobei ich anmerken muss, dass nur der VISCONTE und der RITTER als Märchen durchgehen. Der BARON hält sich sprachlich eher an Abenteuerromane wie ROBINSON CRUSOE oder DIE SCHATZINSEL, was aber auch besser zur Geschichte passt. Besonders beim RITTER kommt eine gute Prise Humor dazu, die herrlich ironisch gegen die Steifheit des Militärs gerichtet ist.
Alle Romane haben je einen Ich-Erzähler, der als Person früher oder später auch einen Auftritt hat, was das Gefühl verstärkt, einer historisch belegten Geschichte beizuwohnen. Diese Erzähler sind aber somit nicht allwissend und man muss sich als Leser immer fragen, inwieweit man ihnen trauen kann und wie die Sympathien verteilt sind.
FAZIT: Calvinos wohl berühmtester Roman WENN EIN REISENDER IN EINER WINTERNACHT hat mich vor Jahren (auf positive Weise) halb um den Verstand gebracht. Ich war nach diesem labyrinthischen Verwirrspiel, das alle Genres durcheinandermixt, wie von den Socken. Seit dieser Leseerfahrung lobe und empfehle ich Calvino, wo es nur geht, ohne – ich gestehe – je ein weiteres seiner Bücher gelesen zu haben. Das wollte ich mit dieser Trilogie ändern … ich wurde nicht enttäuscht; es hat sich gelohnt. Dem ganzen Paket gebe ich fünf Sterne, mit besonderem Fingerzeig auf den RITTER, dessen Geschichte mir am besten gefallen hat.
Italo Calvinos Bücher sind literarische Spielwiesen voller Witz und Poesie. Es ist ein großes Glück, sein gesamtes Werk in der schönen Klassik-Reihe bei Fischer erhältlich zu wissen. Ich bleibe dran – da gibt es einige Schätze zu heben.
Danke für den Fingerzeig, denn den Ritter kenne ich noch nicht. Die anderen habe ich vor unzähligen Jahren mit großer Verwunderung und Begeisterung gelesen. Aber erst bei dir erfahre ich, dass sie als Trilogie gedacht sind. Man lernt nie aus. Viele Grüße, Petra
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Das sind tolle Romane, ich habe sie im Studium gelesen, Calvino ist großartig, finde ich, auch wenn mich der „Reisende…“ eher im negativen Sinne um den Verstand gebracht hat 😉 Immer, wenn es grad spannend wurde und ich so richtig in der Geschichte angekommen war, brach sie ab…. Aber da muss man durch und gelohnt hat es sich auf jeden Fall.
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