Gabriel Krauze | BEIDE LEBEN

UK 2020 | 384 Seiten
OT: »Who They Was«
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Kein & Aber
ISBN: 978-3-0369-5850-7

Raus aus der Karre und ich steh auf dem Gehweg und das ist der Moment, wenn du aus dem Wagen springst und es ist zu spät umzukehren, wenn du weißt, dass dus definitiv tun wirst, obwohl dich die Art, wie dir das Adrenalin durch den Körper pumpt, eine Sekunde lang wünschen lässt, dass du ganz woanders wärst.

(Seite 5)

Seid Ihr schon mal überfallen worden? Also nicht im Vorbeigehen heimlich beklaut, sondern so richtig mit Androhung von Gewalt in die Ecke gezerrt und ausgenommen? Ich schon. Nachts im Rostocker Szeneviertel Kröpeliner Tor-Vorstadt von zwei bis in die Haarspitzen zugekoksten Prasselköppen, riesige Kerle, vermummt und aggressiv. Ich musste mein Bargeld und meine Armbanduhr opfern, um von den Idioten nicht zusammengeschlagen zu werden. Ist schon mehr als zwanzig Jahre her, hat aber einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Seitdem denke ich immer wieder an diese Nacht zurück, wenn ich von Raubüberfällen aller Art höre, und überlege mir, was ein Mensch erleben muss, um so ein Arschloch zu werden. Jemanden für zehn Mark und ’ne billige Casio – »Wir hatten ja nichts!« – so dermaßen in Angst zu versetzen, ist doch eine erbärmliche Art und Weise, sein Leben zu bestreiten. Der junge Brite Gabriel Krauze, der jahrelang zu genau dieser Sorte von Kriminellen gehörte, hat nun einen Roman über seine wilde Zeit zwischen Raubüberfällen und Drogendealerei geschrieben und landete damit prompt auf der Longlist zum Booker Prize.

Gabriel Krauze – von allen nur Snoops genannt – wächst in South Kilburn auf, einem jener sozialen Brennpunkte im Londoner Nordwesten, in die man sich als Tourist besser nicht verlaufen sollte. Triste Betonbauten prägen das Viertel, die Armut sprießt aus jeder kaputten Gehwegplatte, selbst die Polizei meidet die Gegend. Snoops wird schnell klar: Mit ehrlicher Arbeit wird man hier nicht glücklich und ein einigermaßen erträgliches Leben kann man sich in Kilburn nur ergaunern. Und hey, wenn man schon auf die schiefe Bahn gerät, warum dann nicht gleich mit Vollgas auf der Überholspur? Snoops macht sich auf der Straße schnell einen Namen. Er stiehlt, überfällt und prügelt um sich, wo er nur kann. Seinen Opfern gegenüber ist er gnadenlos, völlig egal, ob es sich um eine Upper-Class-Lady aus der Innenstadt oder einen Drogendealer von der anderen Straßenseite handelt. Für ein bisschen Bargeld und etwas Schmuck schlägt er Menschen bewusstlos, bricht Fingerknochen und schreckt auch vor Waffengewalt nicht zurück, was ihm den einen oder anderen Aufenthalt im Gefängnis beschert. Doch parallel zu diesem Gangsterleben ist Snoops auch immer noch Gabriel, der aufgeweckte junge Mann, der seine Familie ehrt, auch wenn sie ihm nicht das geben kann, was er will, der Literatur an der Universität studiert und seine Freundin liebt – zwei Leben, die unterschiedlicher nicht sein können und auf Dauer auch nicht miteinander vereinbar sind.


Eines muss man Gabriel Krauze lassen: Er weiß, wie er seine Erinnerungen an die Zeit auf der Straße aufs Papier bringen muss, damit man einen authentischen Eindruck gewinnt, wie es dort zuging. Die Trostlosigkeit in den Gassen seines Viertels, der Dreck in allen Ecken und die Armut in den Hausaufgängen – alles ist intensiv spürbar, genauso wie Snoops‘ diffuser Zorn auf alles und jeden und die daraus resultierende Aggression, mit der er sich gegen die Welt stämmt. Und zwischen all der brutalen Gewalt blitzen hier und da Sätze von fast zärtlicher Poesie auf, die eindeutig die schöngeistige Seite des Antihelden aufzeigen. In dieser Beziehung ist BEIDE LEBEN ein wahrhaft eindringlicher Roman.

Allerdings fehlte mir am Ende eine Art Erleuchtung, irgendein Ereignis, das Snoops endgültig zu Gabriel macht. Im Klappentext steht, dass Krauze dieser brutalen Welt vor Jahren schon den Rücken gekehrt habe – das glaube ich ja auch gern, nur ist das in seinem Roman nicht so recht erkennbar. Das letzte Kapitel spielt zeitlich etwas später, da blickt Gabriel schon mit einiger Reue auf seine Vergangenheit zurück, dennoch weiß ich nicht, was genau ihn denn nun zur Läuterung brachte. So richtig klischeehafte Moralwendungen sind in modernen Romanen ja immer schwierig und in vielen Fällen sogar völlig unangebracht, hier aber hätte wenigstens ein kleiner Fingerzeig in die richtige Richtung gereicht. Ohne diesen ist es schlussendlich nur eine Ansammlung brutaler Szenen — authentisch und mitreißend geschrieben, das ja, aber dennoch eher Milieustudie als Roman mit Entwicklung.


BEIDE LEBEN erschien im Verlag Kein & Aber, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

5 Gedanken zu “Gabriel Krauze | BEIDE LEBEN

    • Passiert. Ist schon Ewigkeiten her. Dennoch werde ich immer noch nervös, wenn nachts auf der Straße hinter mir irgendwelche Typen rumgrölen. Sowas bleibt auf Jahrzehnte in einem stecken. Unangenehm.

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