Verena Keßler | DIE GESPENSTER VON DEMMIN

D 2020 | 240 Seiten
Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-26784-8

Die Peene ist ein Fluss von hier.

(Seite 9)

Demmin – eine typische Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, die wie eine Schablone für alle Klischees der nordöstlichen Provinz herhalten könnte. Am Gewässerkreuz dreier Flüsse und in schöner Natur gelegen, fristet das alte Städtchen sein Dasein in gepflegter Langeweile. Die Alten bleiben aus Gewohnheit, die Jungen wollen weg, denn zwischen Netto, Friedhof und Dönerbude ist hier nicht viel zu holen. Auch Larissa – die Ich-Erzählerin, die von allen bitteschön nur Larry genannt werden will –, träumt von einem aufregenderem Leben. Kriegsreporterin möchte sie werden, in ferne Länder reisen und in Krisengebieten in gefährliche Situationen geraten. Für den Fall, dass sie mal in Gefangenschaft kommt und gefoltert wird, trainiert sie schon fleißig und stählt ihren Körper: sie hängt minutenlang kopfüber vom Apfelbaum oder hält so lang wie möglich ihre Hände in die zugefrorene Peene – was man in Demmin halt so machen kann…

Dass die trostlose Stille in Demmin eher eine Art Trauer ist, die seit Kriegsende über der Stadt liegt, davon ahnt Larry noch nichts. Im Mai 1945 spielte sich hier Tragisches ab: Aus Angst vor der Roten Armee nahmen sich in einer um sich greifenden Panik etwa 1000 Menschen das Leben. Viele von ihnen ertränkten sich in den Flüssen, ihre Kinder um den Bauch geschnallt und mit Steinen beschwert. Dieser Massensuizid ging als der größte seiner Art in die Geschichte des Landes ein und hängt seitdem wie ein Trauma über der Stadt. Für die Kids von heute ist das Drama nur noch eine Fußnote im Geschichtsbuch. Lange Zeit wurde darüber geschwiegen, nur die Alten wissen noch, was damals genau geschah. Larrys Nachbarin Frau Dohlberg ist eine von ihnen. Sie ist alt und allein, kann sich nur noch schlecht um sich kümmern und steht kurz vor dem Auszug in ein Altersheim. Beim Ausräumen ihres Hauses fallen ihr immer wieder Dinge in die Hände, die sie zurückdenken lassen, an die Zeit des großen Todes.


Verena Keßler (*1988) geht in DIE GESPENSTER VON DEMMIN sehr behutsam mit der historischen Tragödie um und stellt das Heranwachsen und Rebellieren der jungen Larry in den Vordergrund. Dabei trifft sie einen munteren, authentischen Ton, der mit dieser besonderen Mischung aus Zynismus und Melancholie ein bisschen an Holden Caulfield erinnert. Das Mädchen hat viele Probleme: Ihre Mutter ist alleinerziehend und schleppt regelmäßig neue Ersatzväter für Larry an; Larry hat keine Geschwister, denn ihr einziger Bruder starb schon als Kleinkind kurz vor Larrys Geburt, ein Schicksalschlag, an der die Ehe der Eltern zerbrach; ihre Freundin Sarina verliebt sich in den geheimnisvollen Timo, der bei Netto Paletten auspackt und in den Larry selbst heimlich verliebt ist. Und dann ist da noch die ewige Langeweile in diesem öden Kaff. Sätze wie »Demmin ist im Dunkeln nicht gerade Disneyland.« (S.160) oder »Es nieselt schon wieder, natürlich, wenn ich die Sonne wäre, würde ich auch lieber woanders scheinen.« (S. 155) sagen alles, treffen genau ins Schwarze. Dennoch tut sie cool und gibt sich unnahbar. Den Alten gegenüber ist sie immer nett und höflich, aber auch nur, weil die ihr ab und an mal ein Scheinchen zustecken. Man kann bei der Lektüre viel lachen, auch wenn man jederzeit spürt, dass es unter Oberfläche reichlich brodelt. Einen kleinen Ausschnitt gibt die Autorin bei zehnseiten.de zum Besten:

Besonders gefallen hat mir, wie gut Keßler mit ihrer Geschichte haushaltet. Sie macht nicht den Fehler, jeden Satz mit Informationen vollzustopfen, sondern verteilt die Antworten auf die Fragen, die sich gleich zu Beginn brennend ergeben, ruhig, fast zögerlich über die 240 Seiten. Selbst ganz am Ende erhält man noch ein Puzzleteil, das zum Verständnis fehlte. Das ist wunderbar komponiert und passt sehr gut zu Larissa, denn – so stelle ich mir vor – lernte man das Mädchen in Wirklichkeit kennen, würde sie auch auch nicht alles sofort preisgeben, man müsste erst ihr Vertrauen gewinnen. Und ist es nicht genau das, was wir beim Lesen immer machen? Vertrauen zu einer Figur aufbauen, damit sie sich uns öffnet? Damit wir sie näher kennenlernen oder gar verstehen dürfen?

DIE GESPENSTER VON DEMMIN ist ein ruhiges, großartig geschriebenes Buch, das die heutigen Probleme der jungen Generation respektvoll mit der der Kriegskinder und deren Vergangenheit verbindet. Eine große Leseempfehlung!


DIE GESPENSTER VON DEMMIN erschien bei Hanser Berlin. Mein Exemplar ist Teil der Eintrittskarte für das Leseclub Festival 2021, das für den 23. April – dem Welttag des Buches – deutschlandweit geplant war. Leider musste es wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

Hinterlasse einen Kommentar