USA 1974 | 290 Seiten
OT: »Oreo«
Aus dem amerikanischen Englisch
und mit Anmerkungen versehen von Pieke Biermann
Deutscher Taschenbuchverlag dtv
ISBN: 978-3-423-28197-3
Als Frieda Schwartz von ihrem Schmuel erfuhr, dass er (a) ein schwarzes Mädchen heiraten werde, hatte sie spontan ein chiaroscuro aus dem weißen Satin einer chuppa und der Hautfarbe einer schwartze vor dem inneren Auge, und das But rauschte und stockte ihr in sämtlichen Kanälen […] (Seite 13)
Schon die Geburt von Christine steht unter keinem guten Stern. Als Tochter eines Juden und einer Schwarzen – ein in Amerika der Nachkriegsjahre verpöntes Bündnis – steht sie ethnisch und sozial zwischen den Stühlen: Außen schwarz, innen weiß – wie der Keks, daher ihr Spitzname Oreo. Nachdem sich ihre Eltern trennen – der Vater zieht für einen Neubeginn nach New York City, die Mutter tingelt mit einer Theatergruppe durchs Land und kommt nur selten nach Hause –, wächst Oreo mit ihrem Bruder bei der Großmutter in einem ärmlichen Viertel in Philadelphia auf. Eine schlimme Gegend für ein junges Mädchen, aber Oreo ist blitzgescheit, sehr gebildet und dermaßen schlagfertig, dass sich kaum jemand traut, sich mit ihr anzulegen.
Als Oreo alt genug ist, bekommt sie eine Art Starterkit geschenkt, von ihrem Vater vor vielen Jahren unter einem Dielenbrett hinterlegt, als er die Familie verließ. Ein Paar alte Socken, ein Talisman und eine Liste mit zwölf kryptischen Hinweisen – mit dieser spärlichen Ausrüstung macht sich Oreo auf den Weg nach New York, um ihren Vater zu finden. Dort angekommen schreibt sie alle namentlich passenden Einträge aus einem Telefonbuch ab und beginnt ihre abenteuerliche – und nicht ganz ungefährliche – Suche durch den Großstandtdschungel.
So: Wer kennt sich aus mit griechischer Mythologie? Die Theseus-Sage? Schon mal gehört? Ich bin seit Jahren begeisterter Kneipen-Quiz-Gänger – es gibt ein legendäres Kneipen-Quiz in der Rostocker Altstadt; hoffentlich geht es dort bald weiter –, und immer wenn diese Rubrik aufgerufen wird, winke ich ab, verdrehe die Augen und lass die Experten ran. Was soll ich sagen: Ich kann mir die ganzen Geschichten einfach nicht merken und bringe ständig alle Namen durcheinander. Wie gut, dass es in OREO, dem einzigen Roman von Fran Ross (1935-1985) einen umfangreichen Anhang gibt, der die Theseus-Sage in Kurzform wieder in Erinnerung bringt.
Denn diese berühmte Legende bildet die Basis für das irrwitzige Buch, das mit über vierzig Jahren Verspätung endlich auch für das deutschsprachige Publikum zu entdecken ist. Und sie kommen alle darin vor: Sinis der Fichtenbeuger, die Wildsau Phaia, Skiron der Räuber, bis hin zum wilden Minotaurus in seinem Labyrinth. Nur dass es sich hier eben nicht um mythologische Helden oder Fabelwesen handelt, sondern um Zuhälter oder Obdachlose oder Schuhverkäufer oder Haustiere, die sich Oreo auf ihrer Suche in den Weg stellen. Mit Witz, Mut und losem Mundwerk kämpft sich Oreo durch New Yorks Unterwelt. Die Sprache, die Ross dabei anschlägt, ist wild, zügellos und oft obszön, zutiefst sarkastisch und voller Seitenhiebe gegen jede Art von Klischee. In OREO wird einfach alles durch den Kakao gezogen, nichts ist heilig, jeder bekommt seine Abreibung. Dennoch – oder gerade deshalb – ist der Roman ein Bekenntnis für die Freiheit und Gleichheit, das viele Themen anschneidet: Rassenhass, Religion, Feminismus.
Das sind sicher einige der Gründe dafür, dass der Roman bei Erscheinen kaum eine Leserschaft fand und über zwanzig Jahre in der Versenkung lag. OREO ist ein typisches Beispiel für das seltene Phänomen »seiner Zeit voraus«. Erst im Jahre 2000 – fünfzehn Jahre nach Ross‘ Tod – wurde der Roman wiederentdeckt, neu veröffentlicht und erreichte Kultstatus. Dass wir ihn jetzt, weitere zwei Jahrzehnte später, endlich lesen dürfen, ist der grandiosen Übersetzung von Pieke Biermann zu verdanken, die sich der schwierigen Aufgabe gestellt hat, den Text, der vor Straßenslang und jiddischem Wortschatz nur so wimmelt, ins Deutsche zu übertragen. Eine Meisterleistung, die ihr völlig zu Recht den Preis der Leipziger Buchmesse einbrachte.
Also: Wenn Ihr amerikanische Literatur schätzt, an griechischer Mythologie interessiert seid und vor sprachlich ungewöhnlichen Texten nicht zurückschreckt, dann sei Euch OREO wärmstens ans Herz gelegt. Ein irres Abenteuer mit einer wahnwitzigen Heldin.
OREO erschien beim Deutschen Taschenbuchverlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
[…] kann. Romane, die sich diesem Sujet auf ganz ähnliche Weise nähern, wären Fran Ross‘ OREO und Paul Beattys DER VERRÄTER – beide ebenso lesenswert wie dieser […]
LikeLike