USA 2020 | 496 Seiten
OT: »Shuggie Bain«
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-27108-1
Der Tag war mau.
(Seite 11)
Eines vorweg: Ich bin, was traurige Bücher angeht, nicht unbedingt empfindlich. Ich lasse mich gern von tragischen Momenten berühren, bin ja nicht gefühllos, aber dass ich während einer Lektüre wirklich geweint habe, ist schon sehr lange her. Tja, diese tränenlose Serie wäre hiermit wohl beendet. Douglas Stuart hat es tatsächlich – und mit erschreckender Leichtigkeit – geschafft, mit seinen zielsicheren Prosafingern mein Herz zu umschließen und kräftig zuzudrücken.
Es sind die 80er Jahre in Glasgow, Schottland – ein eher finsteres Jahrzehnt in der jüngeren Geschichte des Vereinigten Königreiches. Der kleine Hugh »Shuggie« Bain lebt mit seiner Familie ein paar Kilometer außerhalb im heruntergekommenen Arbeiterviertel Pithead, wo Trostlosigkeit auf Armut trifft. Die Männer hier sind von ihren harten Jobs im Bergbau körperlich am Ende, die Frauen kümmern sich mehr schlecht als recht um die vielköpfigen Rasselbanden. Die Kids sind ungehobelt und raufsüchtig, die Erwachsenen mies gelaunt. Alle sind bildungsfern, rauchen was das Zeug hält und greifen oft und gern zur Flasche. Nur Shuggie ist anders. Er ist sensibel und mitfühlend, spielt eher mit seiner Puppe als mit einem Fußball und bleibt lieber unauffällig als sich – wie die anderen Jungs – lauthals und mit Gewalt einen oberen Platz in der Hackordnung zu ergattern. Natürlich macht ihn das in der gnadenlosen Nachbarschaft zum Gespött und Mobbingopfer N°1.
Doch das sind nicht die einzigen Probleme, die er zu stemmen hat. Seit sich seine Eltern getrennt haben, driftet Shuggies Mutter Agnes tiefer und tiefer in den Alkoholismus ab. Immer öfter verprasst sie Sozialhilfe und Invalidenrente für Bier und Schnaps, so dass es am Ende der Woche kaum noch fürs Essen reicht. In ihren Saufgelagen lässt sie sich – auch oft unfreiwillig – mit den Ehemännern ihrer Nachbarinnen ein, wodurch sie jedes Wohlwollen im Viertel verliert. Ihre Kinder Catherine und Alexander haben längst keinen Respekt mehr vor ihr und verlassen das Haus so früh es geht. Nur der kleine Shuggie hält zu ihr, glaubt an das Gute und ein Happy-End, kümmert sich auch in den härtesten Zeiten um sie und hält die Würde der Bains aufrecht, so gut er es in seinen viel zu jungen Jahren vermag.
Ich meine es jetzt so wie ich es schreibe: Ich habe NOCH NIE einen dermaßen erschütternden Roman gelesen. SHUGGIE BAIN ist die minutiöse Darstellung eines Verfalls, die Chronik einer alles zerstörenden Krankheit und die Geschichte einer verlorenen Kindheit. Auch wenn in der Mitte des Buches ein wenig Hoffnung – und Erleichterung – aufkommt, bleibt es eine fünfhundertseitige emotionale Achterbahnfahrt, die ihren dunklen Reiz vor allem aus dem Gegensatz der furchtbaren Entgleisungen der Mutter und der unerschütterlichen Liebe ihres Sohnes bezieht. (Spoiler- und Triggerwarnung für den Rest dieses Absatzes!) Wenn man liest, wie Agnes den Jungen im Bett fest an sich drückt, ihm zuflüstert, er müsse jetzt ganz tapfer sein, und dann die Gardinen in Brand steckt; wenn man liest, wie Shuggie sich von einem dreckigen Taxifahrer befummeln lässt, weil er kein Geld hat, um seine Mutter von einer Party abzuholen; wenn man liest, wie Shuggie selbst die Dosen Bier leert, um Agnes noch ein bisschen länger nüchtern zu halten … also wem bei solchen Szenen nicht die Nüstern zittern, hat kein Herz. Nach manchen Seiten habe ich nicht weiterlesen können, das Buch zugeschlagen und irgendetwas anderes gemacht.
Ich kann gar nicht richtig erklären, wie Douglas Stuart es macht, aber der Text ist so unfassbar realistisch, dass es einem schon nach wenigen Kapiteln den Hals zudrückt. Vielleicht ist es der Fakt, dass es sich bei diesem Buch um seine eigene Lebensgeschichte handelt. Shuggie Bain ist Douglas Stuart – das ist eine Information, die dem Roman eine enorme Intensivität verleiht und jede vermeintliche Künstlichkeit im Keim erstickt. Es gibt ja so Bücher, bei denen klar und deutlich erkennbar ist, dass mit möglichst dramatischen Szenen absichtlich auf die Tränendrüse gedrückt wird. Doch bei SHUGGIE BAIN? Keine Spur davon – ich glaube ihm jedes einzelne Wort.
Eigentlich würde ich als Fazit gerne schreiben, dass es sich hier um einen wunderbaren Roman handelt, den ich jedem ans Herz lege – was zwar stimmt, aber irgendwie unpassend klingt. So etwas kann man bei jedem zweiten John Irving-Schinken sagen, aber nicht bei SHUGGIE BAIN. Vielleicht eher so: Dieser Roman ist verdammt gut, vielleicht der beste in diesem Herbst, aber man darf ihn nicht unterschätzen und als bloße Unterhaltung abtun. SHUGGIE BAIN steckt so voller Kraft und Tragik und Liebe – sensible Leserinnen und Leser sollten mit Vorsicht an die Lektüre herangehen.
SHUGGIE BAIN erschien beim Verlag Hanser Berlin, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.
Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Jetzt du auch noch. So ziemlich jeder Blogger und Rezensent meines Vertrauens lobt das Werk über alle Maßen. Nun ist es endgültig im Warenkorb gelandet. Ihr macht mich arm, ihr solltet euch schämen. 😉
LikeGefällt 1 Person
😄 Gern geschehen!
LikeGefällt 1 Person
[…] Besprechungen beim Bookster HRO, Letteratura und Sandra […]
LikeGefällt 1 Person
[…] Douglas Stuart | SHUGGIE BAIN […]
LikeLike