Annika Reich | MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT

D 2023 | 208 Seiten
Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-27587-4

Als ich die erste tote Frau entdeckte, war ich noch keine zehn Jahre alt und wollte angeln.

(Seite 9)

Was innerhalb einer Familie – abgesehen von materiell mehr oder minder wertvollen Dingen – grundsätzlich mitvererbt wird, sind Scham- und Schuldgefühle. Je wohlhabender und mächtiger die Familie ist, desto größer wird die immaterielle Last, die auf den Erben liegt. In Annika Reichs neuem Roman MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT bekommt die Ich-Erzählerin Luise das Gewicht einer solchen Bürde zu spüren und droht daran zu zerbrechen.

In Luises Familie ist es die Großmutter, die seit Jahrzehnten mit absolutistischer Herrschaft die Geschicke lenkt. Ein kompliziertes Geflecht aus Abhängigkeiten, Lügen und Misstrauen ist über einen Zeitraum gewachsen, der bis in die Kriegsjahre zurückreicht. Wer sich den Ansagen der Großmutter entzieht oder gar gegen sie aufbegehrt, wird aus dem inneren Kreis ausgeschlossen. Nun ist sie tot, die Herrin, und die hinterbliebenen Frauen geben ihr die letzte Ehre – ein Treffen, das deutlich macht, wie tief verwundet die Familie wirklich ist. In vielen Rückblenden erfahren wir von Luises Jugend auf dem luxuriösen Anwesen, auf dem hinter jedem Vorhang, unter jedem Teppich der Schimmel der Unaufrichtigkeit wächst.


Das tiefer liegende Thema, an dem sich Reich abarbeitet, ist aber weniger die beschriebene Familie als eher das System, in dem sie funktioniert. Beim Lesen fällt sofort auf: Es ist ein Patriarchat ohne Männer. Es ist nicht so, dass die Männer in diesem Roman auf Dienstreise sind und ihre Frauen den Reichtum verprassen lassen, nein, die Männer spielen hier überhaupt keine Rolle. Die paar Kerle, von denen kurz die Rede ist, streuen nur schnell ihren Samen in den Acker und verschwinden dann ins Sonstwohin. Die Autorin verdreht die althergebrachten Geschlechterrollen und erzählt eine Geschichte, die mit Männern als Hauptfiguren kaum für Aufsehen sorgen würde. Mit Frauen dagegen kann sie die Krankhaftigkeit einer patriarchal geführten Familie viel deutlicher machen, ein genialer literarischer Trick.

In Annika Reichs Roman stimmt einfach alles. Der zarte erzählerische Ton passt einerseits perfekt zur zurückhaltenden Luise, deren Gemüt stets zwischen Revolte und Resignation hin- und herwankt, und steht gleichzeitig im krassen Gegensatz zum erbittert geführten Stellungskrieg innerhalb der Familie. Die Figuren sind vielschichtig angelegt und haben alle ihre Schwachpunkte, die auch gezeigt werden. Selbst die Großmutter erleben wir in einer Szene geschwächt und derangiert. Außerdem handelt es sich bei MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT um einen der wenigen Romane, die tatsächlich den Bechdel-Test bestehen. All dies macht das Buch zu einem absoluten Highlight in diesem Frühjahr.


(c) Stadtbibliothek Rostock

Eine kurze Anekdote in eigener Sache: Ich hatte am 23. März die große Ehre, das Leseclub-Festival mit Annika Reich moderieren zu dürfen. Das Konzept dieser deutschlandweiten Veranstaltungsreihe ist so angelegt, dass man mit der Eintrittskarte gleichzeitig auch das Buch kauft. Die Gäste des Leseclubs sind mit der Geschichte also vertraut, so dass an dem Abend ein Gespräch auf ganz andere Ebene entsteht, als auf einer „normalen“ Lesung. Das Publikum an unserem Abend war sehr angetan, zeigte sich interessiert und diskussionsfreudig. Die Zeit verging wie im Fluge und meine schwierigste Aufgabe war es, darauf zu achten, dass wir nicht allzu sehr überziehen. Annika, falls Du das hier liest: Ich danke Dir nochmals für diese tolle Erfahrung!


MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT erschien im Hanser Berlin Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

2 Gedanken zu “Annika Reich | MÄNNER STERBEN BEI UNS NICHT

  1. Wurde beim Lesen immer neugieriger. Zuerst die Frage: ist es wirklich so, dass je wohlhabender und einflussreicher eine Familie ist, die Last der Bürde ansteigt? Sind die Lasten nicht vielmehr anders verteilt, anders geartet (manchmal).
    Ein Patriarchat im Matriarchat, klingt spannend und desillusionierend, bis es zum Aufbrechen der Wunden kommt.
    Sehr inspirierend fand ich auch den Leseclub. Leider zu spät. Der nächste März ist meiner:)

    Gefällt 2 Personen

    • Ist sicher nicht bei allen Familien so, aber große Macht heißt oft auch viele interne Geheimnisse, Dinge, die nicht an die Öffentlichkeit kommen sollen.
      Das Leseclub Festival ist wirklich eine großartige Veranstaltung. Müsste es viel öfter geben. Nächstes Jahr hoffentlich wieder.

      Gefällt 1 Person

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