Emily St. John Mandel | DAS MEER DER ENDLOSEN RUHE

USA 2023 | 288 Seiten
OT: »The Sea of Tranquility«
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Ullstein Verlag
ISBN: 978-3-550-20215-5

Edwin St. John St. Andrew, achtzehn Jahre alt, schleppt das Gewicht seines doppelheiligen Namens auf einem Dampfschiff über den Atlantik, steht auf dem Oberdeck, die Augen gegen den Wind zusammengekniffen: Mit behandschuhten Fingern umklammert er die Reling, erhofft ungeduldig einen ersten Blick auf das Unbekannte und versucht – endlich! – irgendetwas jenseits von Himmel und Meer zu erkennen, sieht aber nur Schattierungen von endlosem Grau.

(Seite 9)

Ein Subgenre, das sich spätestens seit H. G. Wells‘ Klassiker DIE ZEITMASCHINE unverminderter Beliebtheit erfreut, sind Zeitreisegeschichten. Die eiserne Regel Nummer 1 – die heutzutage wohl jedes Kind herunterbeten kann – lautet: Wenn du in die Vergangenheit reist, verändere dort nichts, sonst zerstörst du deine Gegenwart. (Doc Brown würde es wissenschaftlicher ausdrücken, aber ich denke, alle wissen, was gemeint ist.)

Nach so vielen Dekaden künstlerischem Herumspielen mit der Grundidee der Zeitreise – inklusive aller Unterarten wie Zeitlöchern, Zeitschleifen oder (Lebens-)Zeithandel – kann die Frage, ob diese Thematik nicht langsam mal auserzählt ist, ruhig in den Raum gestellt werden. Was können aktuelle Romane oder Filme diesem Genre eigentlich noch Neues beisteuern? Die kanadische Autorin Emily St. John Mandel versucht, mit DAS MEER DER ENDLOSEN STILLE ihren Beitrag zu leisten.

Rund fünfhundert Jahre sind es, die Mandels SciFi-Story umfasst. Sie beginnt 1912 in den dichten Wäldern Westkanadas und endet 2401 in einem streng geheimen Zeitinstitut auf einer Kolonie im All, weit weg von der längst unbewohnbaren Erde. Der Zeitreisende Gaspery-Jacques ist dafür zuständig, Risse im Zeit-Raum-Kontinuum zu finden, und entdeckt eine Anomalie, die Jahrhunderte zurückreicht und mehrere Menschen unfreiwillig miteinander verbindet.


Eines ist schonmal festzuhalten: Emily St. John Mandel kann schreiben. Sie weiß ihren Figuren Leben einzuhauchen, bringt die einzelnen Schicksale in unterschiedlichsten Zeiten gut in Szene und geht dabei auf diverse Problematiken ein. Von pandemischen Katastrophen über Weltraumkolonialisierung bis hin zur Andeutung, dass die menschlichen Geschicke nur einem Computerprogramm entspringen, ist alles dabei, was die Herzen der SciFi-Fans höher schlagen lässt. Dabei taucht sie eigentlich gar nicht so tief in die wissenschaftliche Ebene hinab, sondern bleibt eher bei den Wünschen und Ängsten der Menschen. (Das Kapitel um die Autorin Olive, die eine letzte Lesereise auf der Erde absolviert, ist grandios gelungen.) Mandel führt ihr zunächst ahnungsloses Publikum vorwärts durch die Zeit, erklärt den Clou der Geschichte und macht sich dann wieder auf den Rückweg, nur dass die Lesenden jetzt wissen, wie die kryptischen Szenen einzuordnen sind. Stilistisch kann man der Autorin kein Vorwurf machen.

Doch leider wurde ich von Beginn an das Gefühl nicht los, das alles so oder so ähnlich schon zu kennen. Ein bisschen WOLKENATLAS hier, etwas MATRIX dort, zur Abrundung ein gehöriger Schuss ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT, garniert mit einem DIE ANOMALIE-Sahnehäubchen. Mandel verwurstet längst bekannte – und eindeutig besser umgesetzte – Ideen zu einer müden, vorhersehbaren Story, die vom ersten Kapitel an einfach zu konstruiert wirkt, um wirklich Spaß zu machen. Durch den Klappentext angestachelt, wurde mir schnell klar, dass er eigentlich schon zu viel verrät… genau wie diese Rezension, wie ich gerade merke. Wer sich wirklich überraschen lassen will, sollte ohne jedes Vorwissen an diesen Roman gehen. Für mich war außer ein paar Stunden flacher Unterhaltung nicht viel gewonnen. Ein Buch aus der Rubrik »Kann man lesen, muss man aber nicht«.


DAS MEER DER ENDLOSEN RUHE erschien in der Übersetzung von Bernhard Robben im Ullstein Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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