D 2019 | 174 Seiten
Mareverlag
ISBN: 978-3-86648-288-3
Mit mildem Gelb durchsetztes frisches Blattlicht fiel von der Böschung vor dem Küchenfenster auf Boden und Tisch. (Seite 5)
Charles – ein Biochemiker aus Oxford, kurz vor dem Ruhestand – erfüllt sich den lang gehegten Wunsch, ein Mal durch den Ärmelkanal zu schwimmen. Von den Steilküsten bei Dover soll es zum Cap Gris-Nez nahe Calais gehen, über dreißig Kilometer kaltes Wasser mit starken Strömungen und unvorhersehbaren Wetterlagen. In den frühen Morgenstunden verlässt Charles die englische Küste und kämpft sich – von einem Sicherheitsboot begleitet – Stunde für Stunde, Kilometer für Kilometer voran, dem Ziel, aber auch dem körperlichen Zusammenbruch entgegen.
Was ihn dazu angestachelt hat, diese nicht ungefährliche Herausforderung anzunehmen, erfahren wir Leser zwischen Charles‘ kraftvollen Armzügen, die ihn nicht nur einem persönlichen Erfolgserlebnis entgegen-, sondern auch von einer herben Enttäuschung wegbringen sollen. Seine Frau Maude nämlich hat nach über vierzig Jahren Ehe beschlossen, die eigentlich recht konventionelle Beziehung für einen zweiten Mann zu öffnen. Ausgerechnet Silas ist es, mit dem Charles seine Frau teilen soll, ein Jugendfreund und Mitglied einer lang zurückliegenden menage a quatre, zu der auch Maudes Schwester Abbie zählte. Und eigentlich auch Silas Vater Tex, aber … es ist kompliziert.
Was Ulrike Draesners (*1962) schmalen Roman so besonders macht, ist die Sprache, mit der sie die verworrene Lebens- und Liebesgeschichte Charles‘ mit seiner Kanaldurchquerung zusammenbringt. Zunächst ist alles noch geordnet: das Ziel ist klar, die Schwimmzüge kräftig und die Erinnerungen an die Studienzeit Ende der Siebziger frisch. Doch mit jedem Kilometer schwinden Charles die Kräfte, aus den geplanten siebzehn Stunden Schwimmzeit werden bald vierundzwanzig und ebenso verzerren sich die Gedanken, verwischen, verblassen, geraten durcheinander, bis hin zum drohenden Kollaps.
Ob Charles es schafft, die französische Küste zu erreichen, sei hier mal dahingestellt – ich möchte ja nicht spoilern –, aber am Ende heißt es so oder so: Zurück nach England, es gibt noch was zu klären. Draesners Message ist so traurig wie einfach – Wenn das Leben noch nicht fertig ist mit dir, kannst du so weit schwimmen wie du willst, es wird dir nichts bringen. Eine Geschichte der Selbsterkenntnis, gut durchdacht und hypnotisch geschrieben – ein starkes Buch.
KANALSCHWIMMER erschien im Mareverlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Alle Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet Ihr hier. Auch Marina von literaturleuchtet hat es gefallen. Eine kleine Bitte noch: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.