Gabrielle Zevin | MORGEN, MORGEN UND WIEDER MORGEN

USA 2022 | 560 Seiten
OT: »Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow«
Aus dem amerikanischen Englisch on Sonia Bonné
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0129-7

Bevor Mazor sich als Mazer neu erfinden sollte, war er Samson Mazor, und davor hieß er Samson Masur.

(Seite 13)

Mitte der Neunziger laufen sich Sam und Sadie in einem Bostoner U-Bahnhof über den Weg. Die beiden haben sich seit Kindertagen nicht mehr gesehen, mittlerweile studiert Sam in Harvard Mathematik, Sadie Informatik am MIT. Zusammengebracht wurden sie damals durch zwei Tragödien: Sadies Schwester lag mit Leukämie in dem Krankenhaus, in dem auch Sam nach einem schweren Autounfall untergebracht war. Sam, der bei dem Unfall seine Mutter verloren hatte, war durch das Trauma mutistisch geworden und hatte seit Wochen kein Wort mehr gesprochen. Tag für Tag hing er an der Spielkonsole im Wartebereich und flüchtete sich in die grob-pixelige Welt von Super Mario und Donkey Kong. Erst als Sadie sich neben ihn setzte und mitspielte, fing Sam wieder an zu sprechen, als hätte er nie damit aufgehört.

So beginnt Gabrielle Zevins wunderbarer Roman MORGEN, MORGEN UND WIEDER MORGEN, der uns durch gut dreißig Jahre dieser besonderen Freundschaft führt. Die Verbindung dieser beiden jungen Menschen ist von Anfang eine ganz besondere, auch wenn sie sich in ihren Hochs und Tiefs über die Jahre hinweg nicht groß von anderen unterscheidet. Sie lieben und hassen sich, sie verstehen sich blind und reden aneinander vorbei — das klingt nach einer ganz normalen Langzeitbeziehung. Doch Sam und Sadie sind eher geschäftlich als privat ein Paar und in der äußerst kreativen Zeit, die auf das Wiedersehen in Boston folgt, revolutionieren die beiden einen bestimmten Teil der Welt von Grund auf.


Der Roman der 1977 in New York City geborenen Autorin hat sein sehr spezielles Setting in der Welt der Videospiele und Softwareentwicklung. Sam und Sadie tun sich zusammen, gründen eine Firma und kreieren Spiele, wie es sie vorher noch nicht gab. Spiele mit moralischen und philosophischen Grundideen, die die Grenzen zur Kunst verschwimmen lassen. Spiele fernab der ewiggleichen Jump’n’Run-Münzsammlerei und dem stupiden Ego-Shooter-Geballer. Spiele in denen man sich vor der realen Welt verstecken kann. Und sie haben gewaltigen Erfolg damit. Nur privat läuft es mit den beiden nicht gut. Irgendwie scheinen sie wie vom Schicksal füreinander vorgesehen, doch sie lieben sich immer zu verschiedenen Zeiten. Sie schleppen zuviel mit sich herum, zuviel Traumata, Ängste, Erinnerungen…

Die große Kunst, die Zevin in ihrem Roman zu Papier bringt, ist die bodenlose Tiefe ihrer Charaktere. Auch neben den beiden Hauptfiguren — von Sadies Ab-und-zu-aber-irgendwie-doch-nicht-Partner Dov bis zu Sams koreanischen Großeltern Dong und Bong — haben alle ihre Stärken, Schwächen und Geheimnisse. Zevin deckt sie nach und nach auf, tut dies ohne Hast, lässt sich für die ganze Geschichte weit mehr als fünfhundert Seiten Platz. Dass das Buch an keiner Stelle an Tempo verliert und jederzeit spannend und mitreißend bleibt, ist ein Beweis für die stimmige Komposition der Geschichte.

Ein ganz großes Plus gibt es für die sanfte Einführung in die seltsame Gamer-Welt, in der ich mich persönlich so gut wie gar nicht auskenne. Es gibt ja einige Romane, die in dieser Quasi-Parallelwelt spielen und viel zu viel Wissen und Interesse voraussetzen — Raphaela Edelbauers DAVE war für mich so ein Buch –, und daher von manchen als zu nerdy empfunden werden. Bei Zevin ist das anders, sie nimmt uns an die Hand und führt uns sicher durch diese schräge Welt. Anstatt Interesse zu verlangen, weckt sie welches. Diese nicht zu unterschätzende Leistung, gekoppelt mit der Coming-of-Age-ähnlichen Liebesgeschichte zwischen Sam und Sadie und Zevins modernem aber nie gekünstelten Schreibstil, lässt MORGEN, MORGEN UND WIEDER MORGEN zu einem großen Lesegenuss werden — ein absolutes Highlight in diesen Frühjahr, nicht nur für Second-Life-Fans.


MORGEN, MORGEN UND WIEDER MORGEN erschien in der Übersetzung von Sonia Bonné im Eichborn Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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