D 2021 | 415 Seiten
Ecco Verlag
ISBN: 978-3-7530-0000-8
Als Maja geboren wurde, an einem unter drückender Hitze ächzenden Nachmittag im August 1984, raste ein mit fünf Tonnen Kies beladener Lastwagen mit einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde über die Sperranlagen am Grenzübergang Friedrichstraße / Zimmerstraße.
(Seite 11)
Maja und Eitan, Eitan und Maja – eine größere Liebe ist kaum vorstellbar. Seit sich die beiden in Indien zum ersten Mal über den Weg liefen, sind sie unzertrennlich, auch wenn knapp dreitausend Kilometer zwischen ihnen liegen. Denn Maja kommt aus Deutschland und Eitan aus Israel. In einem drei Generationen umfassenden Bogen erzählt Katharina Höftmann Ciobotaru (*1984) die Geschichte zweier Familien, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Maja wächst in Ostdeutschland auf, in Rostock, der Boomstadt der späten DDR. Nach der Wende zerfällt ihre Familie. Majas Vater ist vom über Nacht ins Land brechenden Richtungswechsel schlichtweg überfordert und wie gelähmt, ihre Mutter dagegen wittert überall das große Geld, verliert sich aber zunehmend im Alkohol. Majas Tante rutscht mit ihrer Sippe in den politisch rechten Sumpf, einer Bewegung, die in den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen gipfelt.
(Als Rostocker habe ich diesem Buch natürlich stark entgegengefiebert. Ich bin ein paar Jahre älter als Katharina Höftmann Ciobotaru, habe die in Rostock geschilderten Szenen also alle bewusst erlebt, so auch die furchtbaren Ausschreitungen am Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen, die den guten Ruf der ganzen Stadt landesweit und für viele Jahre zerstört haben. Die Autorin widmet diesen schwarzen Tagen ein ganzes Kapitel, für das sie gut recherchiert hat. Allein dafür lohnt sich schon die Lektüre.)
Eitans Familie dagegen ist sein Fels in der Brandung. Er ist Jude und seine Vorfahren kommen aus vielen Teilen der Welt – dem Irak, Osteuropa –, haben überall Verfolgung und Unterdrückung erlebt und sich im neu gegründeten Israel ein neues Leben aufgebaut. Auf die Entfernung lässt sich die Liebe nicht dauerhaft bändigen, also versucht es Eitan in Deutschland, wo er schnell auf Hindernisse stößt – Bürokratie, Chancen, Anfeindungen –, die ihm einen würdigen Start in ein neues Leben verwehren. Also zieht Maja nach Tel Aviv, dieser flirrenden, freigeistigen und weltoffenen Metropole mitten in einem Land, das von Feinden umzingelt ist und sich in permanenter Bedrohung befindet.
Diese beiden jungen Menschen zusammenzubringen, heißt auch, zwei Kulturen zusammenzubringen, von denen man aufgrund der gemeinsamen Geschichte lange Zeit meinte: Bis zum Ende aller Tage werden diese beiden kein Wort mehr miteinander wechseln; Schuld und Wunde sind einfach zu groß. Aber weil es immer die bessere Entscheidung ist, Brücken statt Mauern zu bauen, ist die Beziehung Maja-Eitan möglich. Und es ist wichtig, sie zu erzählen.
Besonders stark ist Höftmann Ciobotaru beim Beleuchten der Unterschiede beider Länder. Was widerfährt Eitan in Deutschland, was Maja in Israel? Hier zeigt die Autorin – die viele Parallelen zu ihrer weiblichen Hauptfigur hat –, dass sie über die Jahre ein großes Wissen um die Alltäglichkeiten in beiden Ländern angesammelt hat, aus dem sie jetzt schöpfen kann.
Äußerst interessant ist Majas Vorhaben, zum Judentum zu konvertieren, den Giur zu vollziehen. In jüdischen Familien geht der Glaube von der Mutter auf die Kinder, also ist es wichtig, dass Maja Jüdin wird. Doch sie hadert lange mit diesem Schritt, da sie ohnehin nicht religiös ist. Das sind alles wichtige, erzählenswerte Themen, die Höftmann Ciobotaru hier anschneidet. ALEF ist mehr als ein Roman, es ist auch Aufklärung, die Einlösung eines Bildungsauftrages und nicht zuletzt eine Einladung in eine andere Kultur.
Einziger Wermutstropfen ist der Schreibstil, den ich für eine Autorin, die schon mehrere Romane und Sachbücher veröffentlicht hat, für zu unausgegoren halte. Im ersten Drittel findet Höftmann Ciobotaru noch eine angenehm märchenhafte Stimme, die gut zur erzählten Zeit passt, ihr dann aber recht schnell abhandenkommt. Vielleicht sollen die späteren Kapitel jugendlicher, moderner oder salopper klingen, für mich jedoch verloren sie beim Lesen leider ihren Drive, ihren Zauber. (Mit Ausnahme der ersten Sätze. Ich sage Euch: Jeder erste Satz eines jeden Kapitels dieses Romans ist wunderbar. Es ist, als ob Höftmann Ciobotaru all ihre kreative Kraft in diese ersten Sätze legt. So etwas ist mir noch nie bei einem Roman so stark aufgefallen… Nur fürs Protokoll: Das ist kein Kritikpunkt, ganz im Gegenteil.)
Außerdem läuft die Autorin häufig in die Infodump-Falle. Für eine Sie-Erzählerin ist sie viel zu dicht an der Hauptfigur und legt unnötig viele Informationen in den Erzähltext. Das ist das genaue Gegenteil des hemingwayschen Grundsatzes Show, don’t tell. Erkläre nicht alles, zeig es einfach! Eine unschöne Begleiterscheinung davon ist, dass die Erzählstimme brüchig wird und man den Urheber, die Urheberin dahinter erkennt. Die Erzählstimme – so wie sie für ALEF angelegt ist – darf gern allwissend sein, sollte aber stets namenlos und unbekannt bleiben; das Publikum soll den Autoren, die Autorin dahinter vergessen. Besonders jedoch wenn es um politische Belange geht, erkennt man beim Lesen oft die Meinung Höftmann Ciobotarus – das ist spekulativ, aber so erschien es mir zumindest – und kann erahnen, dass sie wahrscheinlich schon hunderte Male über diese Themen diskutiert und gestritten hat, und jetzt die Chance nutzt, ihre Überzeugungen mit diesem Buch in Stein zu meißeln. Kann man so machen, wirkt aber immer ein bisschen unbeholfen.
Trotz dieser kleinen Abzügen in der B-Note ist ALEF ein äußerst lesenswerter Roman, der ein Thema beackert, über das es hierzulande viel zu wenig zu lesen gibt, zumindest was die Belletristik betrifft. Über das jüdische Leben in Amerika gibt es Romane zuhauf, immer interessant, immer relevant. Es ist wichtig – besonders mit Blick auf die furchtbaren antisemitischen Übergriffe und Anschläge der letzten Jahre –, dass das jüdische Leben in Deutschland mehr Aufmerksamkeit bekommt. Schreiben heißt Aufklären, Lesen heißt Lernen – ALEF geht da mit gutem Beispiel voran.
ALEF erschien im ersten Programm des frisch gegründeten Ecco-Verlages, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin findet. Eine kleine Bitte noch: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Vielen Dank für diese großartige Rezension, in der genau das steht, was ich beim Lesen des Buches gerade erlebe, aber noch nicht so in Worte zu fassen vermochte….“infodump“, tolles Wort…..
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Danke! Ich glaube, das nennt man so: Infodump. 🙂
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[…] war also ein Hometown-Buddy-Kauf! Das hatte ich das letzte Mal bei Katharina Höftmann Ciobotarus ALEF. Egal also, worum es geht, dieser Roman musste gelesen […]
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