Daniela Dröscher | LÜGEN ÜBER MEINE MUTTER

D 2022 | 448 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00199-0

Meine Mutter passt in keinen Sarg.

(Seite 5)

Der Hunsrück in den 1980er Jahren. Die junge Ela wächst mit ihren Eltern in einem kleinen Dorf auf. Der Familie geht es eigentlich nicht schlecht, aber den Wünschen des Vaters nach ginge da noch einiges mehr. Auf der Karriereleiter sind noch viele Sprossen nach oben offen, doch irgendwie will es mit den Beförderungen nicht klappen. Und als tadelloser Patriarch weiß er auch schon, an wem das liegt: ganz klar und ohne Zweifel an seiner Frau. Diese ist nämlich zu dick – so des werten Herrn Vaters Überzeugung. Durch ihre Fettleibigkeit nähme sein Ansehen in der Gemeinde Schaden, könne er sich in der Öffentlichkeit nicht zeigen und blieben ihm Aufstieg und Ruhm verwehrt.

Mit verbaler Übermacht zwingt er seine Frau zu entwürdigenden Diäten und überprüft mit buchmacherischer Genauigkeit die (Miss-)erfolge. Als Ausgleich zur unvorzeigbaren Gattin flüchtet er sich in repräsentativen Luxus, kauft sich teure Autos, startet Bauvorhaben am Haus, die schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt sind, und macht sich hinterrücks an andere – attraktivere – Frauen ran. Jegliche Versuche der Mutter, sich neben Haushalt und Kinderversorgung selbst zu verwirklichen, werden spöttisch belächelt, und selbst als sie durch eine Erbschaft an sehr viel Geld kommt – mehr als er je haben wird –, hört die Unterdrückung nicht auf. Wo gibt’s denn sowas, dass das Weib mehr verdient als der Mann!? Auf diesem ehelichen Schlachtfeld steht Ela und versucht, in ihrer kindlichen Unschuld irgendeine Art von Frieden zu finden. Doch mit einem von materiellen Dingen besessenen Vater und einer Mutter, die nichts dagegen setzen kann, ist so eine Suche ein aussichtsloses Unterfangen.


LÜGEN ÜBER MEINE MUTTER war für mich persönlich keine leichte Lektüre, denn einige der vielen Kapitel habe ich in meiner Kindheit und Jugend so fast eins zu eins miterlebt. Ich will jetzt nicht zu sehr ins Private rutschen, aber ich kann bestätigen: Daniela Dröscher muss ganz genau wissen, wovon sie schreibt, denn solche Szenen denkt man sich nicht einfach so aus. Zwischenzeitlich hatte ich ein übermäßiges Verlangen danach, ins Buch zu springen, dem Vater den widerlichen Spott aus dem Maul zu schlagen und die Mutter anzubrüllen, wann sie sich endlich von diesem Idioten scheiden lässt … auf manche Bücher sollten statt der überflüssigen Bestseller-Sticker Triggerwarnungen gedruckt werden.

Auch wenn sich das Buch von Anfang bis Ende gut lesen lässt, wirkt es stilistisch an vielen Stellen etwas altmodisch, besonders was die Redewendungen angeht. Dastehen wie die Orgelpfeifen, am Rockzipfel hängen oder es platzt einem der Kragen sind Phrasen, die dermaßen verbraucht sind, dass sie beim Lesen schon negativ auffallen. Da hilft es auch nichts, wenn sie kursiv gedruckt sind, um zu verdeutlichen, dass sie in den Achtzigern wohl noch etwas frischer gewirkt haben mögen und die kleine Ela sie sich vielleicht wörtlich vorstellt. (Haben wir das nicht alle gemacht?) Sehr gelungen dagegen sind die zwischen den Kapiteln stehenden kurzen Einschübe, die Dröscher als Erwachsene im Dialog mit ihrer – mittlerweile getrennt lebenden – Mutter schreibt. Hier nutzt sie die Gelegenheit, die tragischen Szenen des Familienlebens mit ausreichendem zeitlichen Abstand nüchtern und gewinnbringend auszuwerten und einzuordnen.

Daniela Dröscher gelang mit LÜGEN ÜBER MEINE MUTTER der Sprung auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises – ein völlig gerechtfertigter Erfolg, denn das Buch erzählt nicht nur eine persönliche Geschichte, sondern steht stellvertretend für das Schicksal tausender Frauen damals wie heute.


LÜGEN ÜBER MEINE MUTTER erschien im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Eine kleine Bitte noch: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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