USA 2019 | 395 Seiten
OT: »The Topeka School«
Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42949-5
Darren malte sich aus, wie er mit seinem Metallstuhl den Spiegel zerschmetterte.
(Seite 9)
Adam Gordon wächst in Topeka, Kansas, auf. Es sind die Neunziger Jahre – Bill Clinton macht Wahlkampf für seine zweite Amtszeit als Präsident, die Zwillingstürme in New York City stehen noch. Adam ist ein kluger Schüler mit einem besonderen Talent für Sprache, das er regelmäßig im Debattierclub unter Beweis stellt. Seine Eltern, Jane und Jonathan, arbeiten als Psychiater in der Foundation, einer ortsansässigen Nervenklinik und landesweit renommierten Forschungseinrichtung.
Als Jane ein für Kansas-Verhältnisse sehr liberales Buch über die modernen Möglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen veröffentlicht – Frau und Mann, Frau und Frau, Mann und Mann, Frau und Mann und Frau, etc. – wird sie landesweit schlagartig berühmt, gerät aber auch ins Fadenkreuz erzkonservativer Christen, die sie als blasphemische Ketzerin verdammen. Während dieser familiären Belastung versucht Jonathan, seine wissenschaftliche Arbeit weiterzutreiben, die darin besteht, zu erforschen, wie weit man in die Psyche eindringen kann, wenn man Probanden einen per Kopfhörer gesendeten Text so oft und schnell sprechen lässt, bis nur noch Kauderwelsch zu verstehen ist und sich aus den Tiefen des Unterbewusstseins neue Worte bilden. Speech Shadowing nennt er das – ein Pendant zum Assoziativen Schreiben.
Diese fast unheimlich kreativ-akademischen Gordons sind es also, die uns Ben Lerner (*1979) in seinem dritten Roman vorstellt, und dabei eine Familiengeschichte ausrollt, die bis in die Sechziger zurückreicht und auch nach der Hauptgeschichte noch bis in die Gegenwart strahlt. Die kurze Inhaltsangabe lässt vielleicht vermuten, es handele sich um eine Ansammlung skurriler Anekdoten – so ging es mir zumindest nach der Lektüre des Klappentextes –, doch DIE TOPEKA SCHULE ist weit komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Es wird in diesem Roman nicht nur an der familiären Oberfläche gekratzt, nein, es geht zum Teil tief hinab in die kollektive Psyche dieses fragilen Gebildes, das wir Familie nennen, und für dessen Langlebigkeit wir nicht nur Liebe und Zuneigung brauchen, sondern auch eine gehörige Portion Glück. Bei den Gordons hat jeder sein Geheimnis, seine Schwäche: Adam ist trotz seiner Beliebtheit extrem unsicher, eine Unsicherheit, die bis in die Ohnmacht führen kann; Jane hat mit dem Trauma eines Missbrauchs in ihrer Kindheit zu kämpfen; Jonathan setzt für eine Liaison mit Janes Freundin seine Ehe aufs Spiel. Zusätzlich zu dieser familiären Nabelschau erzählt Lerner vom psychisch labilen Darren – einem Schulfreund von Adam und Patienten von Jonathan –, der während einer Party die Beherrschung verliert und dabei fast ein Mädchen tötet. Auch das hat Folgen für die Gordons…
Unabhängig davon, dass ich ein großer Fan amerikanischer Familiengeschichten bin, hat mich eine Bemerkung in der Ankündigung dieses Romans gereizt: »In einer an Wundern reichen Sprache…« – das kann ich nur unterschreiben, denn stilistisch ist Ben Lerner absolut auf der Höhe seiner Zeit. Mit vielen rhetorischen Tricks führt er uns durch seinen zum Teil recht verworrenen Plot, bei dem man zu Beginn eines jeden Kapitels seitenlang nicht so recht weiß, worauf er eigentlich hinaus will, an deren Ende er aber immer wieder die Kurve kriegt und zum großen Ganzen zurückkehrt – eine Kunstfertigkeit, die mich ein ums andere Mal verblüfft hat. Diese komplexe Art zu Schreiben habe ich zuletzt bei Joshua Cohen erfahren, bei dem sich Lerner im Nachwort auch bedankt. Inwieweit der Roman autobiografische Züge hat – der Autor ist in Topeka geboren und aufgewachsen und in etwa so alt wie Adam –, oder ob es sich um reine Fiktion handelt, wäre mal ganz interessant zu erforschen. Fakt ist: Ben Lerner ist mit seinem Roman ein großer Wurf gelungen – vielschichtig, tiefsinnig, stilistisch versiert.
DIE TOPEKA SCHULE erschien in der Übersetzung von Nikolaus Stingl beim Suhrkamp Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Im April 2020 stand der Roman im Finale für den Pulitzer Prize for Fiction, musste sich aber Colson Whiteheads NICKEL BOYS geschlagen geben. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Mir hat es zunächst richtig gut gefallen, doch dann stockte mein Lesefluß phasenweise, weil ich dem Autor nicht so richtig folgen konnte. Das ging mir bei den beiden anderen Romanen von Lerner auch so. Hier hat es mich allerdings etwas mehr gestört, weshalb mir eine Bewertung auch schwer fällt, denn der Autor kann wunderbar erzählen und entwirft auf den verschiedenen Ebenen sehr schöne Welten. Die Figurenzeichnung oder die Debattiergeschichte sind großartig, aber zwischendurch vrliert mich der Autor…. Trotzdem: Gutes Buch und sehr schöne Besprechung!!!
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Mir ging es ähnlich, zwischendurch war ich gefesselt, dann empfand ich den Roman wieder als etwas konfus…
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Danke! Dieses Nicht-folgen-können hatte ich bei fast jedem Kapitel, aber Lerner konnte am Ende immer wieder den Bogen schließen. Das hat mich fasziniert.
LG Bookster
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Danke! Ansporn für mich endlich weiterzulesen …
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[…] Eine weitere Besprechung gibt es bei Bookster HRO. […]
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