Lee Cole | KENTUCKY

USA 2022 | 416 Seiten
OT: »Groundskeeping«
Aus dem Englischen von Jan Schönherr
Rowohlt Hundert Augen
ISBN: 978-3-498-00270-1

Seit ich denken kann, stecke ich in derselben Zwickmühle.

(Seite 9)

Kentucky ist einer jener typischen flyover states, in dem statt boomenden Metropolen kleine Siedlungen die Landkarte zieren. Die Leute dort sind im Schnitt konservativ und stehen progressiven Ideen traditionell eher skeptisch gegenüber. Owen, ein junger Mann, der nach einigen Jahren der Sinnsuche wieder in seine alte Heimat zurückkehrt, um dort zu studieren, kommt bei seinem Großvater und seinem Onkel unter, einfachen und etwas scheuen Menschen, mit denen Owen außer dem Familienstammbaum wenig gemein hat.

Besonderes Konfliktpotential gibt es bei politischen Themen, denn der Onkel ist ein waschechter Trump-Fanboy, der dessen Parolen aus dem laufenden Wahlkampf unreflektiert lebt und skandiert. Auch die Beziehung zu den Eltern ist nicht einfach – Owens Familie ist durchdrungen von eiferndem Patriotismus, Selbstgerechtigkeit und Vorurteilen gegenüber allem Unbekannten. Als Owen seinen Verwandten mit Alma eine Freundin vorstellt, die vor langer Zeit aus dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Bosnien in die USA floh, lässt die kollektive Abneigung nicht lange auf sich warten. Da hilft es auch nichts, dass Almas Familie wohlhabend ist und zum großen Teil aus Akademikern besteht, im Gegenteil, es verschärft die Konflikte nur noch weiter.


In meinem Bücherregal gibt es nur wenig Ordnung. Die meisten Romane stehen und liegen ohne erkennbares System neben- und aufeinander, meistens in der Reihenfolge meiner Lektüren. Bei manchen Verlagen bietet es sich an, die dort erschienenen Bücher beieinander zu halten, weil sie ein einheitliches Design haben, und ein paar Literaturpreistitel habe ich auch geordnet. Eine einzige kleine Mini-Sammmlung hat sich in den Jahren aber doch gebildet: Bücher, die nach US-Bundesstaaten benannt sind … ich habe absolut keine Ahnung, warum. Wenn so eine state novel erscheint, kann ich nicht widerstehen und greife zu, ohne zu wissen, was mich erwartet, was den Nachteil hat, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, nicht auf meine Kosten zu kommen. Das war bei Lee Coles Debütroman KENTUCKY leider der Fall.

KENTUCKY ist sicher kein schlechtes Buch – die Figuren sind vielschichtig angelegt und entblättern nach und nach einige Geheimnisse, die Dialoge sind voller Zündstoff aktueller politischer und soziologischer Debatten, und Lee Cole hat ein sehr feines Gespür für die Sorgen und Nöte seiner (Hinter-)Landsleute. Was dem Roman aber deutlich fehlt, ist ein Ziel, irgendetwas, auf das sich die Story zubewegt, um es zu durchbrechen oder umzustürzen. Der Text plätschert einfach vor sich hin, ohne etwas einzulösen, was bei über vierhundert Seiten sehr zäh werden kann. Als überlange Sozialstudie kann man das gelten lassen, als bereichernden Roman leider nicht.


KENTUCKY erschien in der Übersetzung von Jan Schönherr im Rowohlt-Imprint Hundert Augen, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.

Eine kleine Bitte noch: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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