Karosh Taha | IM BAUCH DER KÖNIGIN

D 2020 | 250 Seiten
DuMont Buchverlag
ISBN 978-3-8321-8394-3

Keiner möchte gegen Younes kämpfen. (Seite 7)

Und immer fragten sie mich, wie ich es angestellt hatte, den neuen Jungen, der wesentlich größer und stärker war, zu verprügeln, und ich erzählte, weil mir jeder zuhörte und mich glauben ließ, etwas Bedeutendes vollbracht zu haben, und ich erzählte, weil die Männer sich freuten und die Frauen sich ärgerten, weil mein Vater mich auf den Schoß nahm und mich aufforderte, die Geschichte seinen Männerfreunden zu erzählen, als wäre sie eine seiner Anekdoten, als wäre ich seine Handpuppe. (die andere Seite 7)

Na, was haben wir denn hier? Zwei erste Sätze? Korrekt, denn bei Karosh Tahas neuem Buch IM BAUCH DER KÖNIGIN handelt es sich nämlich genau genommen um zwei Romane, die mehr oder weniger das Gleiche erzählen, nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Der Band ist als Wendebuch erschienen, das man von beiden Seiten lesen kann. Dass dabei trotz des ähnlichen Plots kaum Redundanzen entstehen, liegt in der Natur der Sache, denn: Befrage zehn verschiedene Zeugen nach einem Ereignis und du erhältst zehn verschiedene Berichte. Aber langsam – wer erzählt denn hier was…

Amal und Raffiq – Kinder kurdischer Migranten – wachsen in einer Plattenbausiedlung im Ruhrgebiet auf. (Die Stadt wird nie genannt, aber ich tippe auf Duisburg). Die beiden sind miteinander befreundet, gehen in eine Klasse und stehen kurz vor dem Abitur. Amal ist ein wildes Mädchen, das keinem Streit aus dem Weg geht, und sich mit dieser Art oft Ärger einhandelt. Raffiq ist ein typischer Heranwachsender mit großer Klappe und derbem Witz. Die beiden teilen das Schicksal, dass ihre Väter die Familien verlassen haben, um in ihrer Heimat im Nordirak einen Neustart zu beginnen und wieder in ihren alten Berufen tätig zu sein.

Diese beiden Jugendlichen erzählen neben ihrer eigenen auch die Geschichte ihres Freundes Younes und dessen Mutter Shahira. Auch Younes‘ Vater hat die Familie verlassen, allerdings lag diese Entscheidung nicht im Heimweh begründet, sondern im Liebesaus, denn Shahira ist eine notorische Fremdgängerin. Sie ist keine Prostituierte oder Hostess, sie lebt einfach promiskuitiv und schnappt sich einen Mann nach dem anderen. (Eine äußerst interessante Figur, denn wenn ein Mann die Frauen am laufenden Band flachlegt, kräht kein Hahn danach.) Natürlich spricht sich so etwas schnell im Viertel herum und Shahira wird von den weiblichen Bewohnern gehasst und von den männlichen umgarnt. Younes – als Hurensohn verspottet – hadert mit seiner Mutter, seinem Stand, seinem Leben und wartet sehnsüchtig auf ein Zeichen seines Vaters.


Nimmt man den Roman zur Hand und dreht ihn rücklängs, ist die Illusion nahezu perfekt: Das Cover prangt identisch auf beiden Seiten, es gibt zwei unterschiedliche Klappentexte, selbst die Fotos der Autorin sind verschieden. Man hat die freie Wahl, mit welcher Geschichte man beginnt. (Ein Effekt, der bei einem E-Book übrigens komplett verpufft.) Nur auf das Lesebändchen hätte der Verlag verzichten können, denn ein solches legt immer nahe, wie das Buch richtig stehen muss.

Aber es gibt kein richtig oder falsch. Beide Geschichten stehen gleichrangig und parallel zueinander und es ist völlig gleich, mit welcher man anfängt. Ich habe mit Amals Text begonnen und war nach wenigen Seiten schon begeistert, wie sprachmächtig und poetisch Taha ihrer Erzählerin die Worte in den Mund legt. Amal ist trotz ihrer äußeren Härte ein Mädchen voller Träume und Sehnsüchte. Sie erzählt ohne Luft zu holen, wie ein Wasserfall. Häufigstes Wort: Und, was von Beginn an ein hohes Tempo ansetzt. Raffiqs Text dagegen ist sehr viel rauher, mehr auf den Punkt, pragmatischer und realistischer. Das ist aber nicht weniger anregend zu lesen, wenn man sich vor Augen führt, dass dieser ganz andere Schreibstil aus derselben Feder kommt. Karosh Taha stellt hier einmal mehr ihr Talent unter Beweis.

Besonders interessant wird es, wenn man die Ereignisse, die in beiden Texten vorkommen, direkt miteinander vergleicht. Ein Beispiel unter vielen: Es gibt im letzten Drittel beider Teile eine Strandparty, auf der Younes verprügelt wird. Während diese Tat für Raffiq keine Erwähnung wert ist, kann es für Amal kaum schlimmer kommen. Andererseits berichtet Raffiq davon, wie er Amal in dieser Nacht näherkommt, was Amal mit keinem Wort erwähnt. Erzählt hier jeder nur, was ihm wichtig ist? Oder sind die Erinnerungen wirklich so selektiv? Oder lügt hier jemand? Oder beide?  Ein solches Spiel mit den Realitäten habe ich zuletzt in John von Düffels großartigem – und leider völlig untergegangenem – Roman KLASSENBUCH gelesen. Karosh Taha steht ihm hier in Sachen Finesse in nichts nach.

Es ist schwierig, diesem Doppel-Roman ein Label aufzudrücken. IM BAUCH DER KÖNIGIN ist mehr als Migrantenliteratur, es ist keine Millieustudie und auch kein Coming-of-Age-Roman. Es ist vor allem ein kunstvolles, grandios geschriebenes Buch über Freundschaft und den Blick auf die Dinge. Und – wer weiß? – vielleicht auch ein früher Kandidat für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2020; es wäre ihr zu gönnen.


978-3-8321-8394-3IM BAUCH DER KÖNIGIN ist als Wendebuch im Dumont Buchverlag erschienen, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

Karosh Taha | BESCHREIBUNG EINER KRABBENWANDERUNG

2 Gedanken zu “Karosh Taha | IM BAUCH DER KÖNIGIN

  1. Ich erwarte den Titel auch auf der Longlist, wobei ich aber den 2., bzw den Raffiq-Teil stilistisch nicht so gelungen fand wie den 1. Und im ebook verpufft der Effekt nicht einfach nur… ich musste erstmal checken, dass meine Ausgabe nicht einfach fehlerhaft war… so gesehen auch ein Effekt 😉

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