Emma Cline | DADDY

USA 2020 | 256 Seiten
OT: »Daddy«
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Carl Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-27073-2

Linda war im Haus und telefonierte – mit wem eigentlich, so früh?

(Seite 7)

Die short story hat in Amerika eine lange Tradition und wird dort seit Jahrhunderten gepflegt und gefeiert. Es gehört fast zum guten Ton, dass sich Autorinnen und Autoren von Rang zwischendurch mit einer kleinen Geschichte zu Wort melden und alle paar Jahre ihre Kurzwerke in einem Sammelband veröffentlichen. Manche sind für ihre short stories sogar berühmter als für ihre Romane, wenn ich da an Alice Munroe, John Cheever, Katherine Ann Porter oder Harold Brodkey denke. Nun reiht sich mit DADDY auch die 1989 geborene Emma Cline in diese illustre Riege – das Ergebnis kann sich sehen lassen.

Anders als es Titel und Klappentext vermuten lassen, geht es in Clines Stories nicht ausschließlich um toxische Männlichkeit. Natürlich bekommt der alte weiße Mann ordentlich sein Fett weg – zurecht –, aber auch die Frauen in den Geschichten sind weit davon entfernt, unschuldige Engel zu sein. Cline erzählt von Familien, die nur noch des schönen Scheins wegen zusammenhalten, weil es eine Schuld gibt, die nie vergessen werden kann; von Männern, die ihr Leben lang bekamen, was sie wollten, wenn sie einfach danach griffen, heutzutage jedoch ihrer falschen Freiheiten beraubt sind und die Welt nicht mehr verstehen; von Frauen, die die patriarchalen Strukturen, die sie umgeben, zu ihrem eigenen Vorteil und ohne Gnade ausnutzen, also eigentlich handeln wie Männer. Alle kommen sie ins Straucheln, alle werden irgendwie scheitern.


Was beim Lesen sofort auffällt, ist, dass Emma Cline die klassischen Regeln einer Kurzgeschichte – wenn es denn solche je gab – geradezu konservativ einhält. Hier wird nicht wild mit Sprache oder Text experimentiert oder auf Teufel-komm-raus die Leserschaft verblüfft. Wären die Themen nicht so aktuell, könnte man meinen, die Texte wären uralt. Das ist bei short stories keineswegs ein Manko, ganz im Gegenteil. Oft habe ich den Eindruck, dass junge Autorinnen und Autoren fehlendes Talent und Disziplin mit achso Funken sprühender Innovation zu kaschieren versuchen, dabei machen sie meist nur alles kaputt. Emma Cline dagegen zeigt all ihr Können, indem sie die gute alte Hemingway-Regel der Eisbergtheorie bis zur Perfektion einhält.

Oberflächlich gelesen gibt es in den Geschichten kaum nennenswerte Aufreger. Sie alle beginnen mittendrin und enden offen, es wird geredet, gezweifelt, gestritten und geflucht, und ehe man sich in einer Szene zurechtgefunden hat, ist sie auch schon wieder vorbei. Doch das wahre Drama – und es gibt in jeder der zehn Stories eines – versteckt sich in Andeutungen, kleinen Halbsätzen, winzigen Hinweisen, die leicht zu übersehen sind. Wenn erstmal klargeworden ist, was genau zu der unangenehmen Situation geführt hat, die hier geschildert wird – wenn der Eisberg also in seiner ganzen Pracht sichtbar ist –, ist das Erstaunen groß. Besonders das Erstaunen über die Brillanz dieser Autorin.

Ich habe sehr lange an dem Buch gesessen. Zum einen, weil ich Story-Bände ungern am Stück lese, sondern lieber nach und nach, wenn’s mal zeitlich und emotional passt; zum anderen, weil ich bei den meisten der Geschichten lange nach einem Zugang gesucht habe, nach ebenjenem Loch in der Eisdecke, in das ich schlüpfen kann, um mir den Eisberg von unten anzusehen. Einige der Stories habe ich doppelt und sogar dreifach gelesen, bis ich wusste, wo die Tragik liegt. Aber auch das empfinde ich nicht als Manko, denn wenn ein Text mehr als den üblichen Aufwand der Lektüre verlangt, ist er mehr als nur übliche Unterhaltung … oder, wer weiß, vielleicht bin ich auch einfach ein bisschen schwer von Begriff und brauchte deshalb so lange.


DADDY erschien in der Übersetzung von Nikolaus Stingl beim Carl Hanser Verlag, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick auf Coverbild gelangt Ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

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4 Gedanken zu “Emma Cline | DADDY

  1. An dieser Stelle mal ein dickes Lob von mir: Ich lese Deine Besprechungen unheimlich gerne. Den Tanz auf der Rasierklinge zwischen sachlich und persönlich beherrscht du einfach perfekt. Und viele Titel, die ich nach Sichtung der Vorschau schon aussortiert habe (wie den hier), wandern dank Dir dann doch wieder auf den Merkzettel. Daher, Chapeau! Für mich ist der Bookster eine der wichtigsten Anlaufstellen im Netz. Also immer schön weitermachen. 🙂

    Beste Grüße aus der kriminellen Gasse
    Stefan

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