Hari Kunzru | WHITE TEARS

USA 2017 | 350 Seiten
OT: »White Tears«
aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Verlag Liebeskind
ISBN: 978-3-95438-078-7

In jenem Sommer fuhr ich häufig mit dem Fahrrad über die Brücke, schloss es vor einer Bars in der Orchard Street an und lief quer durch die Stadt, um alles Mögliche aufzunehmen. (Seite 5)

INHALT: Seth und Carter sind New Yorker Soundtüftler, sie nehmen mit versteckten Mikros Geräusche und Dialogfetzen aus ihrem Alltag auf und mixen sie mit alten Jazz- und Blues-Samples. Während Seth aus einfachen Verhältnissen stammt, ist Carter der Spross einer milliardenschweren Unternehmerfamilie. Zusammen bauen sie ein kleines Tonstudio auf – Carter gibt das Geld, Seth besorgt die Aufnahmen – und ziehen erste Aufträge an Land. Irgendwann belauscht Seth jemanden beim Murmeln eines uralten Blues-Songs, der ihn sofort in Bann schlägt. Im Studio legt Carter ein Gitarrenstück drunter, lädt den Mix ins Netz und behauptet, es sei eine Aufnahme aus den Zwanzigern, der extrem rare Graveyard-Blues von Charlie Shaw – ein fiktiver Name, den Carter spontan aus der Luft greift.

Die Sammlergemeinde im Netz ist völlig aus dem Häuschen und die Angebote für die Platte überschlagen sich, doch ein User scheint mehr zu wissen – JumpJim, der den Jungs nach einem Treffen unmissverständlich klar macht: Lasst die Finger davon, Ihr habt keine Ahnung, worauf Ihr Euch da einlasst. Kurze Zeit später wird Carter brutal überfallen und ins Koma geprügelt, worauf sich Seth mit Carters Schwester Leonie auf den Weg nach Mississippi macht, auf der Suche nach den Ursprüngen des Graveyard-Blues, direkt in das Herz der schwarzen Musik. Was er dort findet, ist ein Sumpf aus Hass und Verbrechen, ein Jahrhunderte alter Rassenkrieg – und Carters Familie steckt mittendrin.

FORM: Es sind zwei Philosophien, die Hari Kunzru (*1969) mit seiner Southern Gothic Novel verfolgt. Zum einen, dass Schallwellen nie verklingen, nur immer leiser werden, und wir nur die richtige Technik bräuchten, um längst vergangen Dialogen zu lauschen. Und zum anderen – der große Aufhänger der ganzen Geschichte –, dass ernst gemeinte Musik, Songs, in denen Herzblut und Aufrichtigkeit stecken, wie kleine Zeitmaschinen funktionieren, in die man steigen und sich in die Zeit zurückbringen lassen kann, in der sie entstanden sind.

Der Roman beginnt verhältnismäßig ruhig und plätschert die ersten hundert Seiten so vor sich hin. Erst ab dem Überfall auf Carter schaltet Kunzru ein paar Gänge rauf, bis er auf Seths Reise in den Süden Höchstgeschwindigkeit erreicht. Ab hier nutzt er die genannten Philosophien, springt wild durch die Zeiten, verbindet längst Vergangenes mit gerade Passiertem und verknüpft die Erinnerungen aller Beteiligten quer durch die letzten hundert Jahre – eine wilde Fahrt durch eines der vielen dunklen Kapitel amerikanischer Geschichte.

FAZIT: Kaum zu fassen, was für eine Sogwirkung WHITE TEARS auf den letzten Seiten erreicht, nicht umsonst steht der Titel gleich auf mehreren Listen für das beste Buch des Jahres (z.B. Time Magazine und New York Times). Aber es nicht nur Geschichtsbuch und Ghost-Story, sondern auch eine Eloge auf die echte, unverfälschte Musik jenseits aller Technik und Spielerei, ein Thema, das mich auch seit meiner Jugend stark umtreibt. Fünf Sterne für ein außergewöhnliches Buch, packend und innovativ geschrieben und tief berührend.


WHITE TEARS erschien im Verlag Liebeskind, dem ich sehr für das Rezensionsexemplar danke. Alle weiteren Informationen findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

9 Gedanken zu “Hari Kunzru | WHITE TEARS

  1. Diese Geschichte hört sich großartig und nach einer ungewöhnlichen Romanidee an. Ich habe gerade ein paar Bücher zum Thema ,,Rassismus in den USA“ auf dem Stapel und werde dieses auf jeden Fall im Kopf behalten. Jazz und Literatur – ein Traum.

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