Uwe Tellkamp | DER TURM

D 2008 | 976 Seiten
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-42020-1

Die elektrischen Zitronen aus dem VEB »Narva«, mit denen der Baum dekoriert war, hatten einen Defekt, flackerten hin und wieder auf und löschten die elbabwärts liegende Silhouette Dresdens. (Seite 15)

INHALT: Der mit knapp 1.000 Seiten doch recht umfangreiche Roman handelt von den letzten Jahren der DDR aus der Sicht mehrerer Charaktere der Dresdner Oberschicht, wohnhaft im noblen Villenviertel Weißer Hirsch, genannt: Der Turm. Eine umfassende Inhaltsangabe ist an dieser Stelle kaum möglich, es passiert einfach zu viel und die Anzahl der auftretenden Personen geht an die Hundert. Nach einigen Kapiteln kristallisieren sich jedoch drei Hauptfiguren heraus.

Da ist zum einen Richard Hoffmann, mit dessen 50. Geburtstag Ende 1982 der Roman beginnt. Richard ist erfolgsverwöhnter Chirurg an einem Dresdner Klinikum und sowohl in der Familie als auch im Kollegenkreis hoch angesehen. Zwei Geheimnisse trüben jedoch den Glanz: Zum einen seine Affäre mit Josta, einer Sekretärin im Klinikum, mit der er sogar schon ein Kind hat und eine Art Doppelleben führt; zum anderen seine Tätigkeit für das Ministerium für Saatssicherheit, die zwar schon dreißig Jahre zurückliegt, ihn aber immer noch erpressbar macht. Und eines Tages stehen wirklich zwei Herren vor der Tür, die von damals wissen, und auch von Josta, und Fragen stellen, wie wichtig es denn für Richard sei, dass alles vor seiner Familie geheim bliebe, und dass seine Kinder eine gute Ausbildung bekämen, und was er im Gegenzug für den Staat tun könne…

Richards Sohn Christian möchte/soll in die Fußstapfen seines Vaters treten und Medizin studieren. Dazu muss er sich vorher durch die Erweiterte Oberschule quälen und sich für mindestens drei Jahre zum Dienst an der Waffe bei der Nationalen Volksarmee verpflichten. Es ist nicht leicht für einen sensiblen Jungen aus gutem Hause bei der Fahne nicht unterzugehen und auch Christian muss viel einstecken. Doch so manche Suppe brockt er sich auch selbst ein: Nach einem vermasselten Übungseinsatz, der mit dem Tod eines Kameraden endet, platzt Christian der Kragen und er beschimpft Staat und System, das alles vor seinen Vorgesetzten, was ihm mehrere Monate Militärgefängnis einbringt. Sein Armeedienst erhöht sich auf fünf Jahre, das Medizinstudium kann er vergessen und dann auch noch die Schande, die er über die Familie bringt…

Meno Rohde (Richards Schwager, Christians Onkel), ist Lektor eines Dresdner Verlagshauses. Er hat die schwierige Aufgabe, die meist systemkritischen Texte seiner Autoren so zu entschärfen, dass sie einerseits nicht der kulturpolitischen Zensur zum Opfer fallen, und dass andererseits Kunst und Ehre der Schriftsteller erhalten bleiben. Ein Balanceakt, dem Meno zwischen all den Künstler- und Politiker-Egos einiges an Fingerspitzengefühl abverlangt, zumal er sich (selbst heimlicher Tagebuch-Poet) der schreibenden Zunft näher verbunden fühlt als dem Staatssystem. Mit Judith Schevola, die als großes Talent und Sprachrohr ihrer jungen Generation gilt, literarisch aber gefährlich weit in der Opposition steht, kommt Meno an die Grenzen seines diplomatischen Geschickes…

Einen wichtigen Teil des Buches nimmt aber auch die Stadt selbst ein: Dresden, neben Leipzig eine der wichtigsten Keimzellen für die Volksbewegungen, die schließlich zum Untergang der DDR führten, die zu diesem Zeitpunkt schon moribund daniederlag. In diesem Roman zeigt sich der Zerfall des Großen auch im Kleinen: Immer mehr geht kaputt, die Wohngebäude der Dresdner Neustadt verfallen, die Stromausfälle häufen sich, Wasserrohrbrüche im tiefsten Winter, alles knackt und platzt und reißt … eine starke Metapher für den desolaten Zustand des Landes, die sich im ersten Satz schon zeigt (siehe oben).

FORM: Uwe Tellkamp, zur Veröffentlichung seines Romans nicht mal 40 Jahre alt, fährt stilistisch einiges an Geschützen auf; nahezu jedes Kapitel ist in anderer Form geschrieben. Es gibt sehr realistische, aber auch traumhaft surreale Szenen; Kapitel, die aus ellenlang verschachtelten Sätzen, und Kapitel, die nur aus ein paar Dialogfetzen bestehen; es gibt wunderbar verträumte Tagebuchnotizen, Briefe an die Eltern und ganze Gespräche in sächsischem Dialekt. Und Tellkamp kann es! Stilistisch, man kann es nicht anders sagen, ist DER TURM ein Meisterstück.

»Iebrischns, Meesder«, Helmut Hoppe wandte sich an Herrn Honich, »is’ Ihr Schbanfärgelschn gans grose Glasse, gönnt misch direkt dran fäddfressn gönnt isch misch.« (Seite 616)

FAZIT: Trotz einiger Längen, die bei so einem Brocken kaum zu vermeiden sind (NVA- und Bundeswehr-Anekdoten wirken bei mir seit jeher stark einschläfernd), hat mir der Roman sehr gut gefallen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie euphorisch DER TURM sowohl bei den Kritikern als auch bei den Lesern aufgenommen wurde, und um den riesigen Medienrummel zur Vergabe des Deutsches Buchpreis 2008 konnte man kaum einen Bogen machen. Die Vergleiche mit Thomas Manns DIE BUDDENBROOKS kamen mir damals etwas vorschnell und hochgegriffen vor, jetzt aber kann ich sie ruhigen Gewissens unterschreiben. DER TURM ist, da bin ich mir sicher, ein Buch das bleiben wird. Von mir gibt es glatte fünf Sterne.

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