Norbert Scheuer | ÜBERM RAUSCHEN

D 2009 | 167 Seiten
C.H. Beck
ISBN: 978-3-406-59072-6

In unserer Kindheit war für meinen Bruder und mich das ganze Haus voller Geräusche und Angst, nur das Rauschen des Wehrs, das sich hinter der Gaststätte befand, beruhigte uns. (Seite 9)

INHALT: Der Mittvierziger Leopold kehrt nach Jahren in seinen Heimatort in der Eifel zurück, ein verschlafenes Nest mit einem Gasthaus, das Leopolds Familie seit Generationen betreibt und das bei Anglern sehr beliebt war. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Sein älterer Bruder Hermann hat sich vor ein paar Tagen in seinem Zimmer eingeschlossen, öffnet die Tür nicht mehr und redet mit niemandem. Offenbar hat er den Verstand verloren. Auch auf Leopolds Bitten ist kein Laut aus dem Zimmer zu vernehmen. Dabei waren die beiden Brüder als Kinder unzertrennlich.

Leopold nimmt sich Hermanns Angelausrüstung und geht an den Fluss. Das Fischen war für seinen Bruder und seinen Vater mehr als nur ein Hobby. Es war eine feste Konstante in ihrer beider Leben, eine Aufgabe, der sie all ihr Herzblut widmeten. Ihr Vater war besessen davon, den sagenumwobenen Ichtys zu fangen, den Großen Fisch, den noch nie jemand zu Gesicht bekommen hatte, und der für ihn den Inbegriff der Weisheit darstellte. Bei seinen Ausflügen den Fluss entlang kommen in Leopold nach und nach all die Erinnerungen an längst vergangene Zeiten hoch, und mit jedem Fisch am Haken werden es mehr. Es ist, als würde er Erinnerungen angeln, die im Fluss der Zeit verborgen waren. Es gab gute Tage, an die er gern zurückdenkt, aber auch solche, wegen denen er einst, um sie zu vergessen, seine Heimat verließ…

FORM: Norbert Scheuer (*1951) erzählt seine Geschichte in schnörkelloser, klarer Sprache, die sich sehr leicht lesen lässt. Ganz wie es zu einem Angler passt, verzichtet er auf stilistische Spielereien und versteckt seine Metaphern nicht in kleinen Details, sondern wirft sie dem Großen und Ganzen als Mantel über. Der Fluss als vergehende Zeit; die Fische als Erinnerungen, die es zu fangen gilt; der Ichtys, der seinen Fänger zur Erkenntnis führen könnte, den aber (natürlich) noch keiner am Haken hatte … kurz: Das Angeln als Lebensphilosophie – das ist Scheuers großes Thema, verpackt in unscheinbare Prosa.

FAZIT: Ich habe das Büchlein sehr genossen, weil es zum Nachdenken anregt über das eigene Leben und die unwiederbringlichen Zeiten. Allerdings fehlt mir für die volle Punktzahl das gewisse Etwas. Die Geschichte ist zu sauber, keine Ecken oder Kanten. Übrig bleiben sehr gute vier Sterne plus eine Leseempfehlungen für Angler mit einem Hang zum Melancholischen.

Alles, was je gewesen ist, treibt jetzt mit uns auf dem Fluss zum Rauschen hinunter. (Seite 167)

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