USA 2017 | 364 Seiten
OT: »Borne«
Aus dem Englischen von Michael Kellner
Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-197-3
Ich fand Borne an einem sonnigen, stahlblauen Tag, als der riesige Bär Mord sich in der Nähe unseres Zuhauses herumtrieb. (Seite 9)
INHALT: In einer Stadt, die nach missglückten Experimenten einer Biotech-Firma in Schutt und Asche liegt, sucht Rachel als eine der letzten Überlebenden nach verwertbaren Abfällen. Immer auf der Hut vor Feinden, Fallen und giftigen Tieren, bringt sie ihre Funde zu den Balcony Cliffs, ihrem Versteck, das sie sich mit ihrem Partner Wick teilt, der damals bei der Firma angestellt war und somit über Hintergrundwissen verfügt. Die Stadt ist rau, hart und gefährlich, große Teile werden von der Magierin kontrolliert, einer Sektenführerin, die mit dunklen Tricks Soldaten aus den armen Seelen rekrutiert. Soldaten für den Kampf mit Mord, einem riesigen, fliegenden Bären – eine der Früchte der Firmenexperimente –, der in jahrelanger Kleinarbeit, die Stadt mehr und mehr zerstört.
Auf ihren Streifzügen durch die Stadt pirscht sich Rachel an den schlafenden Bären, pflückt eine bunt schillernde Pflanze, einer Anemone gleich, aus dessen Fell und bringt sie in die Cliffs. Der Organismus – Rachel tauft ihn Borne: Bürde – wächst schnell, entwickelt nach kurzer Zeit ein Bewusstsein und lernt denken und sprechen. Rachel bringt ihm alles bei, was sie weiß, nimmt ihn auf ihre Erkundungen mit und bemerkt schnell, dass Borne in dieser feindlichen Welt äußerst hilfreiche Eigenschaften besitzt, sowohl zum Schutz als auch zum Angriff. Nach einigen Wochen aber ist Borne bereits zu groß für das Versteck – und zu aufmüpfig für Wick – und muss die Cliffs verlassen. Ein herber Verlust, denn die Proxys – eine Weiterentwicklung des Riesenbären Mord: kleiner aber viel aggressiver – haben Rachel und Wick aufgespürt und jagen sie quer durch die Stadt. Ein atemloser Albtraum beginnt und die Liebenden fliehen in die zerstörte Firmenzentrale, dem Ort des Schreckens an dem alles begann und auch alles enden wird.
FORM: Jeff VanderMeer (*1968) schreibt seine postapokalyptische Geschichte in der Ich-Form aus der Perspektive Rachels, eine traurige und desillusionierte Stimme, die oft in Erinnerungen schwelgt und dabei eine fast poetische Melancholie an den Tag legt, aber trotz allen Widrigkeiten am Leben festhält und immer weiterkämpft. Doch wie der Titel schon verrät, ist die Hauptfigur das seltsame Geschöpf Borne, das VanderMeer Rachel zur Seite stellt. Rachel und Borne sind wie Mutter und Kind, und wie in einer echten Familie gibt es die Zeit des Lernens, die Zeit des Erkennens und die Zeit der Rebellion.
Neben der bildgewaltigen dystopischen, ist es diese familiäre Ebene, die den Reiz des Romans ausmacht. Die Gespräche zwischen Rachel und dem heranwachsenden Borne sind philosophisch, handeln von Herkunft, Identität und Menschenwürde. Was macht einen Menschen aus? Und wie kann Borne eine Person sein, aber kein Mensch? Ist er unnatürlich, widernatürlich, übernatürlich? Und wenn wir beachten, dass Rachel (hebräisch etwa für Mutter) ohne Schwangerschaft zu einem Kind gekommen ist, das den Lauf der Geschichte ändern kann, sind wir schnell bei der Religion, einer dritten Ebene, die viel Platz zum Interpretieren lässt.
Der Roman strotzt also vor Metaphern und die Bilderflut bettelt förmlich nach einer Kinoleinwand, doch wie ich gehört habe, hat sich Paramount schon die Filmrechte gesichert. Aktuell steht mit AUSLÖSCHUNG bereits ein Film nach Vorlage VanderMeers in den Startlöchern (ab März auf Netflix mit Natalie Portman in der Hauptrolle; hier der Trailer). Die Southern-Reach-Trilogie – AUSLÖSCHUNG | AUTORITÄT | AKZEPTANZ –, mit der VanderMeer beim deutschsprachigen Publikum vor ein paar Jahren der Durchbruch gelang, habe ich seinerzeit zwar bemerkt, aber bewusst abgewählt – nicht mein Jagdgebiet. Die Lektüre BORNEs und der Trailer haben mich jedoch neugierig gemacht – nachträglich sozusagen.
FAZIT: Bildgewaltige Postapokalypse, herzerwärmende Familiengeschichte und Tier-Doku der ganz besonderen Art – ich freue mich auf die Verfilmung. Fünf Sterne.
BORNE ist beim Verlag Antje Kunstmann erschienen. Die Übersetzung besorgte Michael Kellner. Alle weiteren Informationen über den Roman findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
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