Iris Wolff | DIE UNSCHÄRFE DER WELT

D 2020 | 216 Seiten
Klett-Cotta
ISBN: 978-3-608-98326-5

Lass mir das Kind.

(Seite 11)

Wie man auf gerade mal zweihundert Seiten eine Familiengeschichte über vier Generationen, über das Leben in einer Diktatur und die Flucht in den Westen schreiben kann, ohne dass etwas auf der Strecke bleibt, stellt Iris Wolff in ihrem neuen Roman DIE UNSCHÄRFE DER WELT eindrucksvoll unter Beweis.

In einem Dorf im Banat – jener Region im Grenzgebiet zwischen Rumänien und Serbien – wächst Samuel als Pfarrerssohn heran. Es sind die Siebzigerjahre, der Personenkult um den rumänischen Staatspräsidenten Nicolae Ceaușescu steuert auf seinen Höhepunkt zu, genauso wie die Bespitzelungen der Geheimpolizei Securitate, die mit der Figur des Konstanty auch in Samuels Dorf einen Vertreter hat. Als jungem Erwachsenen gelingt Samuel mit seinem Freund Oswald die Flucht über den Eisernen Vorhang in einem Agrarflugzeug, nur um nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen Systeme wieder zurückzukehren.


Was diesen Roman so interessant macht, ist, dass Samuel zwar ohne Weiteres als Hauptfigur gelten kann, die Autorin ihn allerdings eher als roten Faden in die Geschichte webt. Jedes der sieben Kapitel wird aus der Perspektive eines anderen Charakters geschrieben – Samuel wird von allen nur beobachtet, so erscheint er mal als Sohn, mal als Freund, mal als Vater. Eine Hauptfigur also, die aus der Sicht der Nebenfiguren komplettiert wird, was Iris Wolff hervorragend gelingt. Ein weiterer roter Faden – ein Motiv, das immer wieder auftaucht – ist das Wasser. Sei es die träge durch das Banat fließende Marosch, die rauhe Nordsee oder ein Stausee – immer spielt das Wasser als Sinnbild der Freiheit eine Rolle, in das die Figuren freiwillig oder von ihren Instinkten geleitet steigen, als seien sie von ihm gelenkt, angelockt, abhängig.

Ebenso wie das Wasser fließt auch die Zeit in DIE UNSCHÄRFE DER WELT unbarmherzig schnell. Die Jahre und Jahrzehnte vergehen zwischen den Kapiteln wie im Fluge, und man muss sich als Leser oft an nebenbei fallen gelassenen Hinweisen orientieren, um zu erahnen, in welchem Jahr der Roman gerade angelangt ist. Die europäische Geschichte ist dabei natürlich ein willkommener Rettungsring. Doch auch wenn der rumänische Sozialismus, eine Flucht von einem System ins andere und die Wendezeit behandelt werden, ist der Roman keineswegs ein politischer. Es ist eine Familiengeschichte, die in einer poetisch-kraftvollen Sprache von Menschen und ihren Träumen erzählt, von ihren Wünschen und Herausforderungen. Ein äußerst lesenswerter Roman, der völlig zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht.


DIE UNSCHÄRFE DER WELT erschien beim Verlag Klett-Cotta, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt Ihr zur Verlagseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.

Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.

2 Gedanken zu “Iris Wolff | DIE UNSCHÄRFE DER WELT

  1. Mein Lieblingsbuch im vergangenen Jahr – Weglassen, Andeuten, im Vagen lassen, das ist Iris Wolff gelungen und macht dieses Buch jenseits des spannenden Settings so beeindruckend.

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