PL 2022 | 384 Seiten
OT: »Empuzjon. Horror przyrodoleczniczy«
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
Kampa Verlag
ISBN: 978-3-311-10044-7
Die Rauchwolken der Dampflokomotive, die über den Bahnsteig quellen verdecken die Sicht.
(Seite 11)
Thomas Manns DER ZAUBERBERG ist einer jener Romane, von denen ich behaupten würde, dass sie zwar in vielen heimischen Buchregalen stehen, heute aber kaum noch aus freien Stücken gelesen werden. Zu zäh, zu alt, zu fett. Außerdem hat sich die Welt in den letzten hundert Jahren ordentlich weitergedreht und in vielerlei Hinsicht ist dieses Monstrum von einem Buch, das seit Ewigkeiten zum sogenannten Kanon der Weltliteratur gehört, eher schlecht gealtert. Lauter privilegierte Männer belehren sich tausend Seiten lang über Politik und Philosophie mit einem Wissensstand, der zurzeit der Veröffentlichung schon antiquiert war. Wer will so etwas – besonders in Anbetracht aktueller Debatten – heute noch ernsthaft lesen? Es wird Zeit für eine Neubewertung dieses Schinkens, und den Anfang macht niemand Geringeres als: Olga Tokarczuk
Mit EMPUSION wagt sich die polnische Nobelpreisträgerin – ein Titel, der sie seit 2019 mit Mann auf eine Stufe stellt – an eine Art Nacherzählung des Zauberberg-Stoffes. Das Sanatorium für Lungenkranke liegt zwar nicht mehr in den Schweizer Alpen, sondern im Schlesischen Görbersdorf – heute Sokołowsko im Westen Polens –, aber die Zeit stimmt ungefähr und vor allem das überhebliche Gehabe des Personals. Als Herren der Schöpfung haben die oberschlauen Ärzte und die vor sich hinröchelnden Patienten natürlich die Weisheit mit Löffeln gefressen und ergehen sich neben stundenlangen Debatten über das Weltgeschehen auch über die minderwertigen Körper- und Geisteskräfte des weiblichen Geschlechts. Mieczysław Wojnicz – ein junger Patient, der sich früh als die Hauptfigur des Romans herauskristallisiert – kann dem Gelaber selten folgen, nimmt aber wenig Anstoß daran, bis er auf mysteriöse Vorgänge im Ort aufmerksam wird. Was hat es mit den aus Holz, Stein und Moos gefertigten Frauenkörpern im Wald auf sich? Und warum gibt es jedes Jahr einen Todesfall unter den Patienten, der an ein Menschenopfer erinnert?
Der Untertitel des Romans lautet: Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte – ein Versprechen, das Tokarczuk mit fortschreitender Handlung durchaus einlöst. Dass sich der Roman tatsächlich im Magischen bewegt, wird spätestens dann deutlich, wenn sich die Erzählstimme zu Wort meldet. Die Autorin imitiert von Beginn an den Duktus Thomas Manns nahezu perfekt – großes Lob an das Übersetzungsduo Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein –, um die Stimme zwischendurch einer Art Waldgeistern zuzuschanzen. Diese – natürlich weiblichen – Wesen begleiten, kommentieren und lenken die Geschicke des Ortes und ihren Bewohnern mit großem Witz und selbstbewusster Überlegenheit.
Olga Tokarczuk legt mit EMPUSION weder eine Hommage an den ZAUBERBERG vor, noch dessen Parodie. Sie macht sich nicht lustig über die damaligen Irrlehren, sondern bietet an, diesen fast heiligen Roman mit einem zweiten, einem heutigen Blick zu begutachten – ein Prozess, dem sich so einige in die Jahre gekommenen Kanon-Titel unterziehen sollten. Dabei übertreibt sie es mit der Männer-Vorführung auch nicht maßlos, denn alle misogynen Äußerungen, die die Herren in ihrem Buch so von sich geben – und davon gibt es unerträglich viele – werden in einer dem Text anhängenden Notiz Promis wie Charles Darwin, Ezra Pound oder August Strindberg nachgewiesen. Immer wenn man also denkt, dass das so doch niemand ernsthaft geschrieben haben kann, belehrt uns Tokarczuk eines Besseren.
EMPUSION ist ein vergnüglicher Spaß mit knallharter Message – genau wie ich es mag. Ein wichtiger und lesenswerter Roman.
EMPUSION erschien in der Übersetzung von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein im Kampa Verlag, dem ich herzlich für das Rezensionsexemplar danke. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autorin, sowie eine Leseprobe findet.
Eine kleine Bitte noch: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.