D 2020 | 320 Seiten
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00024-5
Vier Monate und ein paar zerquetschte Tage nach meinem einundfünfzigsten Geburtstag musste ich ins Krankenhaus.
(Seite 7)
Als ich letztes Jahr um dieselbe Zeit DIE ZWEISAMKEIT DER EINZELGÄNGER beendete – den vierten Band von Joachim Meyerhoffs Romanreihe ALLE TOTEN FLIEGEN HOCH –, überkam mich eine gewisse Traurigkeit, denn es hieß, damit sei das autobiografische Großprojekt vorerst auserzählt. Insgeheim wünschte ich mir, Meyerhoff würde sich doch noch dazu entschließen, weitere Stationen seines aufregenden Lebens in die für ihn so typisch unterhaltsame Prosa gießen. Der Wunsch wurde mir erfüllt, allerdings durch einen schockierenden Umstand, von dem ich damals nichts wusste: Meyerhoff hatte einen Schlaganfall. Die plötzliche Lähmung, der anschließende Aufenthalt in einem Wiener Krankenhaus und der beschwerliche Weg in die Genesung sind die Themen des nun fünften Bandes der Reihe.
Es ist seiner Tochter zu verdanken, dass Joachim Meyerhoff nach dem Hirnschlag gerade noch rechtzeitig im Krankenhaus ankommt, wo man sich umgehend um ihn kümmert. Seine linke Körperhälfte ist gelähmt, er spürt auf dieser Seite nichts und Arm, Bein, Finger und Zehen gehorchen ihm nicht mehr. Panik macht sich breit, die Angst vor der ungewissen Zukunft, und immer der bohrende Gedanke, ganz knapp dem Tod entgangen zu sein. Erst nach unzähligen Untersuchungen und literweise intravenöser Cocktails kehrt so etwas wie Entspannung zurück – genug Zeit für Meyerhoff, über das Leben nachzudenken. Was ist wirklich wichtig? Ist jede Kleinigkeit einen Aufreger wert oder verschwendet man nicht ohnehin schon viel zu viel Kraft und Lebenszeit für Banalitäten?
Das klingt alles nach einem sehr ernsten Buch voller tiefschürfender Gedanken im Angesicht des nahen Todes, nach einer Reise zur Erkenntnis, dass das Leben ein fragiles Geschenk ist, das jederzeit zerbrechen kann. Doch was wäre ein waschechter Meyerhoff-Roman, wenn es nicht auch ordentlich was zu lachen gäbe? Und hier kann der Autor wieder mal herrlich auftrumpfen. Die Patienten zum Beispiel, mit denen er sich das Krankenzimmer teilt, bieten eine große Angriffsfläche für den unvergleichlichen Sprachwitz in Meyerhoffs Prosa. Oder skurrile Geschichten chaotischer Reisen, an die er sich in den schlaflosen Nächten erinnert. Und nicht zu vergessen: die obligatorischen Pipi-Kaka-Anekdoten. Es ist genau diese Balance aus Tragik und Humor, Tiefsinn und Leichtigkeit, die ich so an seinen Romanen schätze, da macht auch dieser doch eher nachdenkliche Teil keine Ausnahme.
Anders aber als bei den vorangegangenen Büchern erzählt Meyerhoff vordergründig nicht von Ereignissen, die lange zurückliegen – bei denen man dank des gegebenen zeitlichen Abstands etwas herumtricksen, sie ausschmücken oder verklären kann –, sondern von brandaktuellen Begebenheiten, von Prozessen, die zum Teil bis heute noch anhalten. Seine Frau und seine Kinder sind wichtige Figuren in diesem Roman; ich kann mir vorstellen, dass es sehr viel schwieriger ist und einiges an Überwindung und Feingefühl bedarf, über sich und seine Familie in der jetzigen Situation zu schreiben, als über eine längst verflossene Liebschaft aus Jugendzeiten. Joachim Meyerhoff erhöht in seinem neuen Buch also einmal mehr den Grad der Intimität und schreibt mit einer Offenheit und Aufrichtigkeit über sich und die Seinen, dass man als Leser fast schon eine Art Dankbarkeit verspürt, der Einladung in dieses fremde Leben folgen zu dürfen. Ein wunderbares Buch, das in mir den Wunsch erneuert, es mögen noch weitere folgen … dann vielleicht aber unter nicht ganz so dramatischen Umständen.
HAMSTER IM HINTEREN STROMGEBIET erschien bei Kiepenheuer & Witsch. Mit einem Klick aufs Coverbild kommt ihr zur Verlagsseite, wo Ihr Informationen über Buch und Autor, sowie eine Leseprobe findet.
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