D 2018 | 1040 Seiten in fünf Bänden
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-42817-7
Als ich Ende Juli in den Neuerscheinungen für den Herbst blätterte, stieß ich auf das Romanprojekt eines mir bis dato unbekannten Schriftstellers und wurde sofort hellhörig. Ein über Generationen reichender Plot in verschiedensten Erzählformen? Über tausend Seiten stark? Fünf Bände im Schuber? Ein Debüt, an dem sechs Jahre gearbeitet wurde? Mir war schnell klar: An diesem Schinken komme ich nicht vorbei! Als ich den Autor dann bei einer Lesung in Frankfurt live erleben durfte – bei einer Open Books-Veranstaltung im Ratskeller während der Buchmesse – , war es gänzlich um mich geschehen. Philipp Weiss (*1982) zeigte sich eloquent und selbstbewusst, las mit angenehmer Stimme aus verschiedenen Teilen seines Mammutwerkes, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, und brachte sein Publikum abwechselnd zum Lachen und Staunen.
Nun liegt er hier vor mir, dieser fünfbändige Wälzer, dieser größenwahnsinnige Tausendseiter, dieser Fels von einem Buch, und ich bin nach drei Wochen intensiven Lesens satt und zufrieden. Jetzt stellt sich mir nur noch die Frage, wie ich die Rezension aufziehen soll. Gewohnt kurz und knapp, ohne groß auf die Inhalte einzugehen, sondern eher auf das Leseerlebnis an sich? Oder doch ausführlich jeden Band einzeln vorstellen, ohne jedoch zuviel zu verraten? Ich entscheide mich für Zweiteres – alles andere würde dem Werk nicht gerecht und fühlte sich unfair an.
Nun endlich kann ich sie aufschreiben in der Hoffnung, sie dadurch zu bewahren und von der kindlichen Angst schließlich erlöst zu werden, ich könnte sie einfach vergessen. (Seite 13)
Als Frankreich 1870 im Krieg gegen die Preußen die Schlacht von Sedan verliert, in deren Folge Kaiser Napoleon III. gefangen genommen wird, brechen wirre Zeiten in Paris an. Das Kaisertum wird abgesetzt, eine Republik ausgerufen und das Proletariat bildet mit der Pariser Kommune eine sozialistisch geprägte Eigenregierung gegen die Machthaber, die sich nach Versailles zurückgezogen haben und von dort das eigene Volk bekämpfen.
Mitten in dieser Revolte wächst Paulette Blanchard auf, Tochter aus wohlhabendem Hause und somit der Bourgeoisie angehörig, dennoch mit für die Arbeiterklasse entflammtem Herzen. Gegen den Willen ihrer Eltern wechselt sie das Lager und kämpft Seit an Seit mit den Kommunarden. Doch die Revolution fordert viele Opfer und Paulette ist zu schwach, um all die Verluste zu verkraften. Dank des Geldes ihrer Familie wird sie außer Landes gebracht und versucht in Wien einen Neuanfang, wo sie die Weltausstellung von 1873 journalistisch begleitet. Hier lernt sie Tetsuo Ōtomo kennen, einen japanischen Übersetzer, in den sie sich verliebt, ihn heiratet und ihm in seine Heimat folgt.
Doch im Japan dieser Zeit haben es Frauen nicht leicht. Entgegen ihres stets nach Freiheit strebenden Naturells muss sich Paulette ihrem Gatten unterwürfigst fügen und sieht sich – wie damals in den bürgerlichen Zwängen Frankreichs – erneut in einem Gefängnis. Um diesem zu entfliehen, schließt sie sich einer Gruppe Wissenschaftlern an, die auf einer Inselkette im Ostchinesischen Meer die Prähistorie des Landes erforscht.
Der erste der fünf Bände orientiert sich formal an der klassischen Enzyklopädie – dieses etwas aus der Mode gekommenen Nachschlagewerk –, was gut zur erzählten Zeit passt. Inhaltlich aber ist es eher eine Art Tagebuch. Paulette Blanchard schreibt in zwölf Alphabeten ihre Gedanken und Erlebnisse in Frankreich und Japan nieder, nach Stichwörtern sortiert und mit zahlreichen Abbildungen ergänzt. Im Anhang finden wir eine Reihe von Briefen Paulettes an ihre Freundin Kusomoto Ine, eine berühmte Ärztin und Tochter des Wissenschaftlers, mit der Paulette die Inseln erforscht. Die letzten Lebenszeichen sind die Informationen, dass Paulette schwanger ist – ein ungewolltes Kind ihres verhassten Mannes –, und dass sie für die Niederkunft nach Frankreich zurück möchte. Danach verlieren sich ihre Spuren und die Geschichte macht einen gewaltigen Sprung in die Zukunft.
Nur ein einziges Mal zuvor habe ich eine solche Stille erlebt. (Seite 11)
Jona Jonas ist um die dreißig, Fotograf und Künstler. Seine Zartheit und Blässe lassen ihn androgyn erscheinen, und da er sich sowohl zu Frauen als auch zu Männern hingezogen fühlt, wandelt er zwischen den Geschlechtern, ohne sich entscheiden zu wollen, welchem Sexus er angehört. Seine Geschichte wird im Band Terrain Vague – zu deutsch etwa: Ödland – erzählt und beginnt damit, dass er sein Gehör verliert. Das passiert in Japan als Folge des Tohoku-Erdbebens im März 2011, das fast 20.000 Menschen das Leben kostet und durch die ausgelöste Flutwelle in der Nuklearkatastrophe von Fukushima gipfelt.
Der Grund für die Reise nach Japan ist das Verschwinden seiner Freundin Chantal, einer zwanzig Jahre älteren Klimaforscherin, zu der er über die Jahre ein kompliziertes Verhältnis irgendwo zwischen Sex, Zuneigung und Hass entwickelt hat. Eines Tages war sie fort, ohne einen Abschied, einfach auf und davon. Durch Hinweise eines Jugendfreundes und einer ehemaligen Kollegin Chantals – mit der sie monatelang in Frankreich an einem Klimamodell gearbeitet hat –, führt die Spur nach Tokio. Doch statt seine Liebe zurückzugewinnen, findet er dort nur Zerstörung, Leid und Tod. Einzig Hoffnung gibt ihm die junge Abra, eine Comiczeichnerin, die Jona mit ihrer flatterhaften Art von seiner Erschöpfung ablenkt und in eine seltsame Zwischenwelt führt, in der alles möglich scheint.
Terrain Vague ist in der Ich-Form aus der Sicht Jonas erzählt und in zwei äußerst ungleich lange Teile getrennt. Der erste Teil beinhaltet – wie oben geschildert – Jonas Suche nach Chantal, mit vielen Rückblenden auf ihr gemeinsames Leben, und seine Erlebnisse in Tokio; das nimmt gut drei Viertel des Bandes ein. Das verbleibende Viertel spielt nach der Katastrophe. Jona unterhält sich über Wochen und Monate mit einem ehemaligen Kraftwerkarbeiter, der zur Zeit der Katastrophe direkt am Reaktor in Fukushima gearbeitet hat und jetzt – schwer verstrahlt und in rasantem körperlichem Zerfall begriffen – seine Geschichte erzählen will. Es ist die traurige Geschichte eines Obdachlosen, der von der japanischen Mafia von der Straße gezerrt wird, um in den Atomkraftwerken die Drecksarbeit zu machen, die den Angestellten wegen der hohen Strahlung nicht zuzumuten ist.
Wer bist du, Kind von Gyokusendo? Oder soll ich fragen: Was bist du? (Seite 6)
Chantal ist nicht nur Jonas Freundin, sondern auch – man ahnt es schon – eine Nachfahrin von Paulette Blanchard, der lebenshungrigen Kommunardin, der wir bereits in Band I begegnen durften. Band III nun beinhaltet die Tagebucheinträge der Klimaforscherin aus der Zeit von November 2010 bis März 2011. In diesen Zeitraum fallen sowohl die Trennung von Jona, als auch die Flucht nach Japan und das Tohoku-Erdbeben. Das im ersten Satz angesprochene Kind von Gyokusendo – jener rätselhafte prähistorische Knochenfund über den Ururgroßmutter Paulette in den Inselhöhlen im Ostchinesischen Meer gestolpert sein soll – ist für Chantal wie ein Gesprächspartner, ein Adressat für ihre Gedanken; Hamlet lässt grüßen.
Es sind trostlose, pessimistische, depressive Gedanken, die wir in den Cahiers zu lesen bekommen. Sie ergeben das Bild einer Frau, die dem Fühlen abgeschworen und sich dem Denken verschrieben hat, die sich von der Welt mehr und mehr entfernt, die sich unheimlich quält mit der scheinbaren Sinnlosigkeit all unseren Tuns angesichts der Zufälligkeit und der Irrelevanz des Menschendaseins, gleichsam jedoch geplagt ist von ihrer Liebe zu Jona, dem sie entschwinden muss.
Dreh- und Angelpunkt der Tagebücher ist das Pamphlet Zerstört euch!, ein Traktat in sieben Teilen, die quer über das ganze Buch verstreut sind. (In Terrain Vague erfährt Jona von der ehemaligen Kollegin, dass Chantal monatelang an diesem Text geschrieben und ihre Arbeit am Klimamodell stark vernachlässigt hat, und daraufhin gefeuert wurde.) Dieser Text ist eine wissenschaftliche Abrechnung mit dem Menschen, der Welt und allem, was darauf kreucht und fleucht. Es ist der Versuch, zu beweisen, dass es nichts gibt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Hierzu holt Chantal weit aus, bringt dutzende Gedankenspiele aus Wissenschaft, Kunst und Philosophie zusammen, erklärt die Erdgeschichte vom Urknall bis zum letzten Weckerklingeln und weist am Ende auf die scheinbar einzig richtige Lösung: der Tod jedes Einzelnen, das Aussterben der Menschheit, der Untergang der Erde, das Ende aller Zeiten.
Die größte Auffälligkeit bei den Cahiers ist das Layout. Verschiedene Schriftarten; kreuz und quer verstreute Gedankenfetzen; eingeklebte Textausschnitte aus Büchern und Zeitungen; seitwärts-, schräg- und kopfüberlaufende Textzeilen; Illustrationen, Fotos und Selbstgemaltes – ein wirres Durcheinander von Informationen, Gedanken und Gefühlen, die uns Chantals Innenwelt näherbringen, manchmal fast näher als wir es wollen.
Hibaba hat gesagt, sie hat den Namazu gesehen. (Seite 7)
»Hallo! Mein Name ist Akio Itō und ich bin neun Jahre alt und ich sitze mit meiner Schwester Keiko auf dem Dach unseres Hauses, aber seitdem die Welt gebebt hat und die große Welle kam, steht das Haus nicht mehr an der Stelle, wo es sonst immer gestanden hat, sondern treibt auf einem riesigen Ozean umher. Aber das ist merkwürdig, denn da, wo jetzt Wasser ist, war früher kein Wasser, da war früher Land und Wald und Feld. Ein bisschen Angst habe ich schon, weil ich nicht genau weiß, wo meine Eltern und meine Großmutter Hibaba sind, und wie das überhaupt alles so gekommen ist, dabei muss ich immer alles ganz genau wissen, sonst werde ich nervös und kann nicht aufhören zu reden. Das passiert nämlich, wenn ich Angst habe: ich rede und rede und rede. Das gibt mir irgendwie ein wenig Mut zurück und beruhigt mich. Leider ist hier niemand, der mir zuhört, außer meiner Schwester, aber die ist noch ganz klein und kann mich nicht verstehen. Aber ich habe im Haus ein Diktiergerät gefunden, das noch eingeschweißt war und deswegen noch funktioniert und da rede ich jetzt rein. Und vielleicht hört sich das ja mal jemand an, dann weiß derjenige, dass es mir abgesehen vom Hunger ganz gut geht, falls das dann noch irgendeine Rolle spielt. Aber da ist jetzt doch jemand mit dem ich reden kann, ein Mann in einem komischen Anzug, der aussieht, als käme er vom Mond. Der weiß bestimmt was hier los ist und kann mir sagen, wo Tatsu ist, mein Leguan, der ist nämlich auch weg. Hallo! Sind Sie nicht der Mann vom Mond?…«
Ich erwache mit Schmerzen. (Seite 9)
Der letzte Band widmet sich Abra, der Comiczeichnerin, der Jona in Tokio begegnet. In Terrain Vague lernten wir sie als quirliges, gutgelauntes Mädchen kennen, aber in Die glückseligen Inseln – dem Namen nach eine Anspielung auf Fukushima: Insel des Glücks – lässt sie uns tief in ihre Gefühlswelt blicken, und die ist alles andere als rosarot. Abra fehlen ein Arm und ein Bein, die Folge eines Autounfalls, bei dem sie als Kind auch ihre Eltern und ihre geliebte Schwester Cadabra verlor. Seitdem leidet sie an Phantomschmerzen in der fehlenden Hand, die ihr den Verstand rauben. Obwohl sie in Tokio von Millionen von Menschen umgeben ist, fühlt sie sich einsam und unverstanden, und sieht in allen anderen nur willenlose Zombies bar aller aufrichtigen Gefühle. Ihr Leid und ihre Schmerzen führen sie in eine komplexe Traumwelt, in der sie sich von ihrem unnützen Körper trennt und nur als Gefühl noch existiert – eine Lebensform, die Chantal wohl gefallen hätte. Die Schmerzen aber bleiben und es gibt kaum Hoffnung auf Erlösung.
Die glückseligen Inseln ist ein japanisches Comic – gezeichnet von der Wiener Künstlerin Raffaela Schöbitz (*1987) –, zum größten Teil in düsterem Schwarzweiß gehalten, mit finsteren, kantigen Figuren, die das depressive Gemüt Abras gut tranportieren. Die bittere Anklage an das sinnentleerte Leben in einer komplett durchtechnisierten Welt und Abras Wunsch nach einer höheren, freieren Lebensform sind ein wunderbarer Abschluss des Romans, der mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert begann. Das Anthropozän, das Zeitalter, in dem der Mensch den größten Einfluss auf die Erde hat, sich also mit Macht über die Natur erhebt, begann 1870. Doch wo wird es enden? Abras Schmerzträume weisen in eine düstere Richtung.
Soviel zu den einzelnen Bänden. Darüber, wie man AM WELTENRAND SITZEN DIE MENSCHEN UND LACHEN am besten lesen soll – sprich: Liest man die Bände der Reihe nach? Oder von hinten nach vorn? Oder liest man alle auf einmal, hin- und herspringend, bewaffnet mit Dutzenden Lesezeichen und Notizbuch? –, gibt es mehrere Auffassungen; auch Philipp Weiss lässt seinen Lesern da freien Lauf. Ich gebe zu, ich habe den Roman ganz konservativ Band für Band von vorn nach hinten gelesen – jedoch nicht ohne zwischendurch in den jeweils anderen Bänden zu blättern – und bin damit ganz gut gefahren. Bei seinen Lesungen führt Weiss vor, dass es durchaus möglich ist, wild durch die Geschichte zu springen und trotzdem alles mitzubekommen. Allerdings hat der Autor natürlich den klaren Vorteil, zu wissen, welche Szenen hintereinandergereiht gut lesbar sind und die Geschichte voranbringen. Ich – der ich die Szenen aufs Geratewohl hätte wählen müssen – fühlte mich mit dieser Methode absolut überfordert. Das wäre wohl eher was für einen Re-Read in ein paar Jahren (was nicht unwahrscheinlich ist).
Doch nun zu meinem Urteil, für das ich zunächst einmal ein paar Dinge festhalten muss, weil sich manche Kritiker mit dem Buch anscheinend doch recht schwer tun: Natürlich ist dieses Romanprojekt größenwahnsinnig und neunmalklug! Es ist furchtbar ausufernd und extrem vollgepackt mit Informationen, die ich mir auch ohne Weiteres jederzeit aus dem Netz holen kann und in ein paar Wochen vielleicht schon wieder vergessen habe. Aber was ist daran falsch? Es macht unfassbar viel Spaß, sich in dieser Flut von Geschichten zu verlieren, den einzelnen Figuren zu folgen und die ganzen Anspielungen und Querverbindungen zu entdecken. Ob man das nun mag oder nicht, in jedem Fall sollte man vor Philipp Weiss für dieses ambitionierte Mammutwerk den Hut ziehen. AM WELTENRAND SITZEN DIE MENSCHEN UND LACHEN ist ein Buch gewordener Spielplatz, ein Roman über alles und nichts und mit ordentlich Tiefgang, ein facettenreiches Kunstprojekt und in seiner Form einzigartig in der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahrzehnte. Ich bin zutiefst beeindruckt, verteile hiermit aus ganzer Überzeugung feierlich das Attribut Meisterwerk und prophezeihe dem Buch einen Kultstatus in gar nicht allzu ferner Zukunft.
Ganz klare Leseempfehlung an Fans von:
David Mitchell | DER WOLKENATLAS
Mark Z. Danielewskis | DAS HAUS – HOUSE OF LEAVES
J.J. Abrams/Doug Dorst | S – DAS SCHIFF DES THESEUS.
(Ach, und wem der stolze Preis von 48 Euro zu hoch ist: Es ist ja bald Weihnachten…)
Zum Abschluss noch ein Satz aus Chantals Tagebüchern, der das Grundgerüst, die eigentliche Idee der Geschichte ganz gut wiedergibt. Der Satz hat mich bei der Lesung in Frankfurt schon fasziniert – Philipp Weiss hatte ihn dort quasi als Zugabe vorgetragen –, und ich darf ihn an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung des Autors zitieren:
Wäre vor etwa fünf Millarden Jahren im Innern der Milchstraße, in der dichten, turbulenten Zone nahe des galaktischen Zentrums, nicht ein monströser Stern explodiert, hätte diese kosmische thermonukleare Bombe mit dem Licht von 20.000 Sonnen nicht eine rotierende Gaswolke durch ihre Schockwellen verdichtet und mit schweren Elementen radioaktiven Fallouts durchsetzt, wäre die Wolke daraufhin nicht unter ihrer eigenen Masse kollabiert, wäre sie in der Folge nicht, als Sonne, in einer absurden Reise durch die Milchstraße nach außen gedriftet, hätte sie dieserart nicht die mächtigen Spiralarme der Galaxis durchquert, wäre sie nicht schließlich in deren ungewöhnlich leere Randzone, die lokale Blase, geraten, in der sie sich nach wie vor befindet, hätten sich, im Innern des Sonnensystems, die schweren Elemente des Sternstaubs nicht zu Planeten verklumpt, wäre vor viereinhalb Milliarden Jahren nicht der marsgroße Planetoid Theia mit der Proto-Erde kollidiert, hätte diese mächtige Karambolage nicht die Erde geschmolzen und deren Elemente entmischt, hätte die Erde sich dabei Theias Eisenkern nicht einverleibt, wäre das Innere des Planeten nicht darum seit Milliarden Jahren glutflüssig heiß, würden an dessen Schale in der Folge keine Kontinente driften, gäbe es keinen aus dieser Kollision entstandenen Mond, hätten die durch diesen Mond bedingten Gezeiten die irrwitze Rotation der Erde über Äonen hinweg nicht abgebremst, wäre in der Folge kein Leben entstanden, hätte dieses Leben im Kambrium nicht den Sex und den Tod hervorgebracht sowie den Krieg aller gegen aller, wäre, viel später, der driftende indische Subkontinent, angetrieben von der Hitze der Erdentstehung, nicht mit der eurasischen Platte kollidiert, hätten sich der Himalaya und das das tibetische Hochland nicht folglich Tausende Meter in den Himmel gewölbt, wäre es darum nicht zu einem folgenschweren Klimawandel gekommen, wäre der Meeresspiegel nicht um 200 Meter gesunken, wäre das Mittelmeer nicht zu einem Becken aus weißen Salzseen vertrocknet, hätte sich der Regenwald Ostafrikas nicht zunehmend zurückgezogen, wären afrikanische Primaten nicht unter massiven evolutionären Stress geraten und hätte die zunehmend kapriziöse Umwelt im Labor des ostafrikanischen Grabens nicht ein vielversprechendes Monster, den Menschen, selektiert, so wäre dieser viel zu lange Satz weder jemals geschrieben noch von Ihnen gelesen worden.
(Chantal Blanchard | Cahiers, Seite 179f.)
AM WELTENRAND SITZEN DIE MENSCHEN UND LACHEN ist beim Suhrkamp Verlag erschienen, dem ich herzlichst für das Rezensionsexemplar danke. Alle Informationen über Buch und Autor findet Ihr hier. Und noch eine kleine Bitte: Kauft Bücher in Euren Buchhandlungen vor Ort. Die Online-Riesen sind schon satt genug und Eure Innenstädte werden es Euch danken.
Was. Für. Ein. Buch. Es klingt gleichzeitig absolut größenwahnsinnig und faszinierend. Wenn jemand so etwas als Debüt im stillen Kämmerlein austüftelt, habe ich Hoffnung auf viele weitere Meisterwerke!
Wenn du noch Lust auf lange Unternehmungen hast, interessieren dich vielleicht auch ,,Zettels Traum“ oder ,,Die Wohlgesinnten“. Auf jeden Fall vielen Dank fürs Vorstellen. Interesse ist geweckt.
Viele Grüße,
Jana
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Danke für die Tipps, hab ich aber bei beiden schon einen Haken hinter. (Allerdings lese ich in ZETTELS TRAUM nicht kontinuierlich, sondern seit Jahren immer mal wieder ein paar Abschnitte, ohne die Absicht, dieses Monstrum in seiner Gänze zu durchdringen.)
Von Philipp Weiss ist aber sicher noch einiges zu erwarten.
Beste Grüße von der Ostsee!
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Das ist wirklich gut! Ich habe beide noch vor mir; die Wohlgesinnten sind auf halber Strecker verhungert – da muss ich noch einmal von vorn beginnen. Ob ich mir Zettels Traum vornehme, weiß ich noch nicht. Ich habe einmal kurz mit dem Gedanken gespielt, aber dann davon Abstand genommen, weil es, wie du schreibst, wohl schwierig sein wird, das Werk ganz zu durchdringen.
Viele Grüße aus dem herbstlichen Berlin!
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Ich würde ja jeden Weg, den David Mitchell wandelt, mit Rosen streuen, liebe seine Bücher und die Querverweise in ihnen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob mich Weiss nicht doch ein wenig überfordern würde … 🙂 Aber irgendwie reizt mich die Herausforderung dann doch. Na, wir werden sehen – es ist ja bald Weihnachten. 🙂
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Ein Blick hinein lohnt sich allein schon der Aufmachung wegen. Ein echter Hingucker.
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Wow, ich bin beeindruckt, dass du das Buch, ähnlich Bücher gelesen hast! Ich hab ihn beim Habour Front Festival in Hamburg lesen sehen und war leider alles andere als angetan von dem Projekt. Es klingt genial und wie du sagst größenwahnsinnig, keine Frage. Aber ich hatte schon bei der Lesung meine Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Insofern Chapeau 😊. An sich scheint es wirklich ein Meisterwerk zu sein!
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Das Buch liest sich erstaunlich leicht. Man muss sich natürlich ein bisschen drauf einlassen und die üblichen Lesegewohnheiten ein Stück weit über Bord werfen, wird dann aber auch über die Maßen belohnt. Ich fand’s großartig.
Weiss springt bei seinen Lesungen zwischen den Bänden immer hin und her, das habe ich mir beim Lesen nicht zugetraut. Der Reihe nach geht’s auch ganz gut.
Danke für Dein Feedback und beste Grüße von der Ostsee!
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